«Wenn dir zum Heulen ist, dann heul»
Hilft ein Coaching gegen Höhenangst?

Rund fünfzehn Prozent der Menschen leiden an Angststörungen. Mit sogenannten Expositionen lassen sich diese überwinden. Unser Autor startet an der Seite einer erfahrenen Coachin zu einem Selbstversuch – und wagt sich mit Höhenangst in die Felsflanke des Grossen Mythen.
Publiziert: 10.09.2025 um 15:00 Uhr
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Darum gehts

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Roland Grüter
Schweizer Landliebe

Der Grosse Mythen! Eine Felsnase, die den Talkessel von Schwyz weit sichtbar überragt. Ein Wanderweg führt siebenhundert Höhenmeter von der Holzegg hoch zum Gipfel. Der Pfad umfasst siebenundvierzig Kurven, über vierzigtausend Menschen nehmen ihn alljährlich unter die Sohlen – und geniessen oben den Ausblick auf die Glarner und die Urner Alpen, auf Vierwaldstätter- und Lauerzersee. Wie auf Instagram und in anderen Social-Media-Kanälen nachzulesen ist, kommen alle Berggängerinnen und Berggänger zum gleichen Schluss: ein grosses Dreihundertsechzig-Grad-Vergnügen.

Nicht für mich. Der viel gerühmte Berg lässt mich immer erschaudern, selbst wenn ich ihn aus sicherer Distanz erspähe. Denn ich weiss, dass ein Abgrund seinen Weg hinauf auf die Spitze säumt, und ich bin mir sicher: Sobald ich in dessen Nähe komme, zieht er mich in die Tiefe.

Kopfkino des Grauens

Allein beim Gedanken daran beginnen meine Knie zu zittern, der Schweiss zu fliessen, der Puls zu rasen. Denn ich leide an Höhenangst. Brücken mit Geländer, Kirchtürme, Gitterroste über Abgründen – keine Sache. Führt aber ein Weg durch stotziges, ungesichertes Gelände wie am Mythen, packt mich die Angst am Schlafittchen und schüttelt mich durch. Wie oft musste ich deshalb schon Wanderungen abbrechen oder mittendrin umkehren. So sollte es nicht weitergehen, auch ich wollte unbeschwert die Natur der Berglandschaften geniessen. Ohne Furcht, dafür mit Freude. Deshalb stehe ich jetzt in der Seilbahnkabine, die mich von Brunni hoch zur Holzegg gondelt. Jetzt bauen sich der Grosse und der Kleine Mythen unmittelbar vor mir auf, ich blicke ängstlich zu deren Spitzen hoch.

Anatomie des Grauens: Im theoretischen Teil lernen Betroffene, wie die (Höhen-)Angst funktioniert – und was sie mit ihnen anstellt.
Foto: Pascal Mora

«Schau einfach weg», ermuntert mich die Höhenangstcoachin. Unter ihrer Anleitung starte ich heute zu einem grossen Abenteuer. Ich will mich meinen Ängsten stellen und erstmals seit Jahren wieder in eine Felswand steigen. Bettina Atzgerstorfer (56) litt einst selbst unter Höhenangst, konnte nicht mal Türme hochsteigen. Auch sie wollte ihre Angst überwinden. Sie belegte deshalb einen Kletterkurs – vielmehr deren drei, und offenbar waren diese erfolgreich.

Nun erklimmt die Zürcherin die höchsten Gipfel. «Lange musste ich auf das wunderschöne Gefühl verzichten, von einem Gipfel ins Tal zu schauen», sagt sie in der Gondel, «nun darf ich es erleben, wann immer ich will.» Dabei schaut sie mich an – mit strahlenden Augen, als würde in ihnen die Sonne aufgehen. Und schiebt hinterher: «Du wirst sehen, du schaffst das auch.» Bettina – in den Bergen ist man per Du – berät hauptberuflich Menschen und Unternehmungen, die sich neu orientieren wollen. Überdies arbeitet sie zweimal pro Monat für das Unternehmen Höhencoach als Supervisorin und will «Schissern» wie mich einen neuen Umgang mit der Höhenangst lehren: nicht etwa in einem Theorieraum, sondern im Gelände.

Das Wunder am Berg

Das heutige Coaching dauert zwar nur einen Tag, trotzdem soll es kleine Wunder bewirken. Sogenannte Expositions- oder Konfrontationstherapien, in denen Menschen mit Angststörungen sachte und unter Aufsicht von erfahrenen Expertinnen und Experten in Situationen geführt werden, die sie das Grauen lehren, sind äusserst erfolgreich – egal, ob man sich vor Spinnen, Prüfungen oder der Höhe fürchtet. Die Erfolgsquote der Methode liegt bei achtzig Prozent. Das macht Mut. Die Expositionen lassen die Angst bloss schwinden, jedoch nicht verschwinden. Letzteres wäre fatal. Denn sie schützt uns vor allerlei Bedrohungen, vor Schmerz und Verletzungen. In der Regel sind wir ihr nicht schutzlos ausgeliefert, finden damit einen entspannten Umgang. Manchmal wird die Angst aber übergriffig, dann kontrolliert sie die Menschen statt umgekehrt.

«Angst lässt sich nicht wegzaubern – man muss sich ihr stellen»

Jeder siebte Mensch ist von einer Angststörung betroffen – nur die Hälfte davon sucht jedoch Hilfe. Angstexperte Michael Rufer erklärt, weshalb sich Therapien lohnen und wie sie funktionieren.

Herr Rufer, Sie beschäftigen sich in Ihrem Beruf seit Jahren mit den Ängsten und Zwängen anderer Menschen. Hilft das Ihnen persönlich, einen besseren Umgang damit zu finden?
Durchaus. In meiner Arbeit geht es schliesslich um das Zusammenspiel von Emotionen und Kognitionen, wie man seine Gefühle früh wahrnehmen und auch beeinflussen kann. Aber auch, wie das Denken durch unsere Gefühle beeinflusst wird. Das ist nicht nur ein spannendes psychotherapeutisches Gebiet – darin lernt man auch viel über sich selbst. Fürs eigene Leben.

Macht Sie das zum Angstprofi, der Herausforderungen mit links schafft?
Nein, definitiv nicht. Gerade gestern erlebte ich das Gegenteil davon. Ich probierte in der Halle einen neuen Kletterweg aus, wusste nicht weiter und bekam prompt Höhenangst. Daraufhin überlegte ich mir, die Übung in der Wand abzubrechen.

Und: Haben Sie?
Nein. Ich hielt kurz inne, reagierte nicht sofort, sondern nahm bewusst wahr, was gerade passiert und überlegte mir genau, was zu tun ist. Danach kletterte ich weiter. Ich liess also nicht zu, dass die Angst mein Handeln bestimmte, denn rein objektiv betrachtet war die Situation nicht gefährlich.

Ihr Beispiel zeigt: Angst ist eigentlich gesund. Sie hielt Sie an der Kletterwand vor einem übereiligen Misstritt und dessen Folgen ab. Eine hilfreiche Emotion also. Wann aber wird Angst krankhaft?
Hier gibt es keine klare Grenze. Kurz gesagt: Wenn die Angst unrealistisch ist, unser Leben deutlich einschränkt und wir ihr nichts entgegensetzen können, obwohl wir das möchten. In solchen Fällen werden das Ausmass der Emotion und die damit einhergehenden Einschränkungen krankheitswertig. Dann ist es ratsam, sich professionelle Hilfe zu suchen, statt die Ängste zu verschleppen und sich mit den negativen Folgen zu arrangieren. Das machen leider sehr viele.

Ich persönlich leide in den Bergen unter Höhenangst. Da lassen sich Situationen, die mich durchschütteln, gut vermeiden, ohne dass mein Leben stark eingeschränkt wird.
Das ist doch gut, wenn sie einen Umgang damit gefunden haben. Manchmal weitet sich die Höhenangst aber aus. Menschen trauen sich plötzlich auch nicht mehr über Brücken zu gehen oder in den dritten Stock hochzusteigen. Dann sind die Folgen gravierender – und behandlungsbedürftig.

Kann man Ängste jemals ganz loswerden?
Nein, darum geht es in den entsprechenden Therapien nicht. Man muss sich ihnen stellen und einen Umgang finden. Verschwinden werden sie nie, sie lassen sich nicht einfach wegzaubern. Das wäre nicht sinnvoll, dann würden ja auch die positiven Funktionen der Ängste als Warnsignal wegfallen.

Wie viele Menschen sind von Angstkrankheiten betroffen?
Die vielen Studien kommen zu unterschiedlichen Zahlen. Man geht davon aus, dass in der Schweiz jede und jeder Siebte davon betroffen ist. Weniger als die Hälfte davon lässt sich jedoch therapieren. Angsterkrankungen werden nicht selten verheimlicht – unter anderem, weil sie als Schwäche angesehen werden.

Kennt man die Ursachen, die dahinter wirken?
Sie sind bei jeder Person unterschiedlich – und mehrschichtig. Manchmal ist ein Trauma der Auslöser: Erlebt jemand beispielsweise in einem Tunnel einen Unfall, traut er sich später eventuell nicht mehr, durch solche Bauten hindurchzufahren. Andere wachsen stark behütet auf und erleben in der Familie, dass man vieles als Risiko oder Gefahr sieht. Auch die Genetik und die Persönlichkeit können eine Rolle spielen. Kurzum: Die Ursachen der Angst sind vielfältig. Deshalb muss man in der Therapie die einzelnen Puzzleteile genau anschauen und analysieren, welchen Beitrag sie leisten.

Sie sagen, Ängste kann man in der Familie lernen. Wie das?
Natürlich. Kinder lernen enorm durch Beobachtung. Sehen sie, dass Papa oder Mama Angst vor bestimmten Situationen haben, können sie diese durchaus übernehmen.

Angsterkrankungen nehmen offenbar besonders bei Jugendlichen zu. Weshalb in dieser Altersgruppe?
Darüber wird oft und gern spekuliert, wir wissen es aber nicht genau. Die Coronapandemie hatte sicherlich einen Einfluss auf die Zunahme der Ängste, und die geopolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Unsicherheiten unserer Zeit wirken wahrscheinlich auch mit. Verlässlich lassen sich die Gründe aber nicht benennen.

Ist allenfalls das Helikopterphänomen in der Erziehung mitverantwortlich?
Es könnte zumindest eine Rolle spielen, da man damit Kinder weniger Herausforderungen meistern lässt – und ihnen dadurch die damit verbundenen Erfolgserlebnisse nimmt. Aber: Viele Menschen bleiben gesund, auch wenn sie stark umsorgt werden.

Weshalb übernimmt die Angst das Logbuch vieler Menschen und lässt sich nicht länger steuern?
Nehmen wir das Beispiel der Phobien, die übersteigerte und irrationale Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen. Meiden wir diese, gewinnen Ängste an Kraft – weil wir an ihnen häufig gescheitert sind, obwohl wir es anders wollten. Es bleibt dann die vermeintliche Erkenntnis: «Gut, dass ich das nicht gemacht habe, es wäre bestimmt schiefgegangen.» Dies vergrössert die Angst vor solchen und ähnlichen Situationen, sodass sie wiederum vermieden werden.

Ein Teufelskreis.
Durchaus. Am Anfang treten Ängste nur selten oder in spezifischen Situationen auf. Später genügt bereits ein Gedanke, ein Bild, eine Schilderung, um Herzrasen, Schweissausbrüche und andere Angstsymptome zu bewirken. Es entsteht Angst vor der Angst. Man kann sie nicht mehr kontrollieren und stellt sich alles viel schlimmer vor, als es tatsächlich ist.

Wie helfen Therapien?
Indem die Betroffenen dazu angeleitet werden, aus dem Teufelskreis auszusteigen. Wir setzen uns erst mit den Menschen zusammen und besprechen, wie die Angst bei ihnen individuell entstanden ist. Dann gilt es, sich mit der Angst auseinanderzusetzen, sie kennenzulernen und sich ihr schliesslich schrittweise zu stellen. Das passiert am Anfang in Begleitung von erfahrenen Fachpersonen. Sonst besteht das Risiko, dass dieser wichtige Schritt der Exposition neuerlich zu einem Negativerlebnis wird.

Sie sprechen von Expositionen, sich in scheinbar kritische Situationen zu begeben. Hilft diese Methode bei allen Ängsten?
Bei den meisten, ihre hohe Wirksamkeit ist unbestritten, weshalb sie einen zentralen Stellenwert beim psychotherapeutischen Vorgehen hat.

Weiss man, wie erfolgreich Expositionen sind?
Das kommt auf die Art der Angststörung an und ob andere, komplizierende Probleme dazukommen. Bei den spezifischen Phobien bringen sie achtzig bis neunzig Prozent der Betroffenen eine erhebliche Verbesserung. Bei anderen Angsterkrankungen ist die Quote etwas kleiner, liegt aber noch immer bei zwei Dritteln.

Stehen Betroffenen andere Wege offen?
Man kann vieles über Selbsthilfe probieren. Wichtig ist, dass das Problem systematisch angegangen wird. Dafür benötigt man eine gute Anleitung, etwa durch ein taugliches Buch oder ein strukturiertes, die Grundprinzipien der Exposition vermittelndes Coaching. Wenn die Ängste begrenzt sind, kann das bereits reichen. Wenn das nicht hilft, sollte eine Psychotherapie in Erwägung gezogen werden.

Prof. Dr. med. Michael Rufer (58) ist seit vier Jahren Chefarzt an der Klinik Zugersee in Oberwil ZG. Er beschäftigt sich seit 25 Jahren intensiv mit Ängsten und Zwängen, und schrieb für Betroffene und Angehörige den Ratgeber «Stärker als die Angst».
zVg

Jeder siebte Mensch ist von einer Angststörung betroffen – nur die Hälfte davon sucht jedoch Hilfe. Angstexperte Michael Rufer erklärt, weshalb sich Therapien lohnen und wie sie funktionieren.

Herr Rufer, Sie beschäftigen sich in Ihrem Beruf seit Jahren mit den Ängsten und Zwängen anderer Menschen. Hilft das Ihnen persönlich, einen besseren Umgang damit zu finden?
Durchaus. In meiner Arbeit geht es schliesslich um das Zusammenspiel von Emotionen und Kognitionen, wie man seine Gefühle früh wahrnehmen und auch beeinflussen kann. Aber auch, wie das Denken durch unsere Gefühle beeinflusst wird. Das ist nicht nur ein spannendes psychotherapeutisches Gebiet – darin lernt man auch viel über sich selbst. Fürs eigene Leben.

Macht Sie das zum Angstprofi, der Herausforderungen mit links schafft?
Nein, definitiv nicht. Gerade gestern erlebte ich das Gegenteil davon. Ich probierte in der Halle einen neuen Kletterweg aus, wusste nicht weiter und bekam prompt Höhenangst. Daraufhin überlegte ich mir, die Übung in der Wand abzubrechen.

Und: Haben Sie?
Nein. Ich hielt kurz inne, reagierte nicht sofort, sondern nahm bewusst wahr, was gerade passiert und überlegte mir genau, was zu tun ist. Danach kletterte ich weiter. Ich liess also nicht zu, dass die Angst mein Handeln bestimmte, denn rein objektiv betrachtet war die Situation nicht gefährlich.

Ihr Beispiel zeigt: Angst ist eigentlich gesund. Sie hielt Sie an der Kletterwand vor einem übereiligen Misstritt und dessen Folgen ab. Eine hilfreiche Emotion also. Wann aber wird Angst krankhaft?
Hier gibt es keine klare Grenze. Kurz gesagt: Wenn die Angst unrealistisch ist, unser Leben deutlich einschränkt und wir ihr nichts entgegensetzen können, obwohl wir das möchten. In solchen Fällen werden das Ausmass der Emotion und die damit einhergehenden Einschränkungen krankheitswertig. Dann ist es ratsam, sich professionelle Hilfe zu suchen, statt die Ängste zu verschleppen und sich mit den negativen Folgen zu arrangieren. Das machen leider sehr viele.

Ich persönlich leide in den Bergen unter Höhenangst. Da lassen sich Situationen, die mich durchschütteln, gut vermeiden, ohne dass mein Leben stark eingeschränkt wird.
Das ist doch gut, wenn sie einen Umgang damit gefunden haben. Manchmal weitet sich die Höhenangst aber aus. Menschen trauen sich plötzlich auch nicht mehr über Brücken zu gehen oder in den dritten Stock hochzusteigen. Dann sind die Folgen gravierender – und behandlungsbedürftig.

Kann man Ängste jemals ganz loswerden?
Nein, darum geht es in den entsprechenden Therapien nicht. Man muss sich ihnen stellen und einen Umgang finden. Verschwinden werden sie nie, sie lassen sich nicht einfach wegzaubern. Das wäre nicht sinnvoll, dann würden ja auch die positiven Funktionen der Ängste als Warnsignal wegfallen.

Wie viele Menschen sind von Angstkrankheiten betroffen?
Die vielen Studien kommen zu unterschiedlichen Zahlen. Man geht davon aus, dass in der Schweiz jede und jeder Siebte davon betroffen ist. Weniger als die Hälfte davon lässt sich jedoch therapieren. Angsterkrankungen werden nicht selten verheimlicht – unter anderem, weil sie als Schwäche angesehen werden.

Kennt man die Ursachen, die dahinter wirken?
Sie sind bei jeder Person unterschiedlich – und mehrschichtig. Manchmal ist ein Trauma der Auslöser: Erlebt jemand beispielsweise in einem Tunnel einen Unfall, traut er sich später eventuell nicht mehr, durch solche Bauten hindurchzufahren. Andere wachsen stark behütet auf und erleben in der Familie, dass man vieles als Risiko oder Gefahr sieht. Auch die Genetik und die Persönlichkeit können eine Rolle spielen. Kurzum: Die Ursachen der Angst sind vielfältig. Deshalb muss man in der Therapie die einzelnen Puzzleteile genau anschauen und analysieren, welchen Beitrag sie leisten.

Sie sagen, Ängste kann man in der Familie lernen. Wie das?
Natürlich. Kinder lernen enorm durch Beobachtung. Sehen sie, dass Papa oder Mama Angst vor bestimmten Situationen haben, können sie diese durchaus übernehmen.

Angsterkrankungen nehmen offenbar besonders bei Jugendlichen zu. Weshalb in dieser Altersgruppe?
Darüber wird oft und gern spekuliert, wir wissen es aber nicht genau. Die Coronapandemie hatte sicherlich einen Einfluss auf die Zunahme der Ängste, und die geopolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Unsicherheiten unserer Zeit wirken wahrscheinlich auch mit. Verlässlich lassen sich die Gründe aber nicht benennen.

Ist allenfalls das Helikopterphänomen in der Erziehung mitverantwortlich?
Es könnte zumindest eine Rolle spielen, da man damit Kinder weniger Herausforderungen meistern lässt – und ihnen dadurch die damit verbundenen Erfolgserlebnisse nimmt. Aber: Viele Menschen bleiben gesund, auch wenn sie stark umsorgt werden.

Weshalb übernimmt die Angst das Logbuch vieler Menschen und lässt sich nicht länger steuern?
Nehmen wir das Beispiel der Phobien, die übersteigerte und irrationale Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen. Meiden wir diese, gewinnen Ängste an Kraft – weil wir an ihnen häufig gescheitert sind, obwohl wir es anders wollten. Es bleibt dann die vermeintliche Erkenntnis: «Gut, dass ich das nicht gemacht habe, es wäre bestimmt schiefgegangen.» Dies vergrössert die Angst vor solchen und ähnlichen Situationen, sodass sie wiederum vermieden werden.

Ein Teufelskreis.
Durchaus. Am Anfang treten Ängste nur selten oder in spezifischen Situationen auf. Später genügt bereits ein Gedanke, ein Bild, eine Schilderung, um Herzrasen, Schweissausbrüche und andere Angstsymptome zu bewirken. Es entsteht Angst vor der Angst. Man kann sie nicht mehr kontrollieren und stellt sich alles viel schlimmer vor, als es tatsächlich ist.

Wie helfen Therapien?
Indem die Betroffenen dazu angeleitet werden, aus dem Teufelskreis auszusteigen. Wir setzen uns erst mit den Menschen zusammen und besprechen, wie die Angst bei ihnen individuell entstanden ist. Dann gilt es, sich mit der Angst auseinanderzusetzen, sie kennenzulernen und sich ihr schliesslich schrittweise zu stellen. Das passiert am Anfang in Begleitung von erfahrenen Fachpersonen. Sonst besteht das Risiko, dass dieser wichtige Schritt der Exposition neuerlich zu einem Negativerlebnis wird.

Sie sprechen von Expositionen, sich in scheinbar kritische Situationen zu begeben. Hilft diese Methode bei allen Ängsten?
Bei den meisten, ihre hohe Wirksamkeit ist unbestritten, weshalb sie einen zentralen Stellenwert beim psychotherapeutischen Vorgehen hat.

Weiss man, wie erfolgreich Expositionen sind?
Das kommt auf die Art der Angststörung an und ob andere, komplizierende Probleme dazukommen. Bei den spezifischen Phobien bringen sie achtzig bis neunzig Prozent der Betroffenen eine erhebliche Verbesserung. Bei anderen Angsterkrankungen ist die Quote etwas kleiner, liegt aber noch immer bei zwei Dritteln.

Stehen Betroffenen andere Wege offen?
Man kann vieles über Selbsthilfe probieren. Wichtig ist, dass das Problem systematisch angegangen wird. Dafür benötigt man eine gute Anleitung, etwa durch ein taugliches Buch oder ein strukturiertes, die Grundprinzipien der Exposition vermittelndes Coaching. Wenn die Ängste begrenzt sind, kann das bereits reichen. Wenn das nicht hilft, sollte eine Psychotherapie in Erwägung gezogen werden.

Das ist erstaunlich oft der Fall. Rund fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung sind im Lauf ihres Lebens von Angststörungen betroffen, gut fünf Prozent von Höhenangst. Auch ich gehöre dazu. Schon auf der Anfahrt nach Brunni begann mein Kopfkino zu surren: Wird alles gut gehen, wo liegen die Risiken? Ich habe schlecht geschlafen, bin nervös. Ein Gefühlschaos. Bislang bin ich Situationen wie diesen bestmöglich ausgewichen. Eine Vermeidungsstrategie, die meine Angst über die Jahre verstärkt – und mich von vielen Wanderungen, ja sogar vom Skifahren abgehalten hat.

Bei anderen weitet sich die Angst manchmal sogar auf andere Bereiche aus. Expertinnen und Experten raten deshalb dringlich, sich ihr zu stellen. Deshalb der Mythen, deshalb Bettina. Also los. «Wie gross ist deine Angst in diesem Moment auf einer Skala zwischen eins und acht?», fragt mich Bettina Atzgerstorfer im Stübli des Restaurants Holzegg. Es ist eine Sechs – die Angst schüttelt den Cappuccino in meiner Hand gerade gehörig durch. Ich zittere und würde am liebsten gleich losmarschieren. Augen zu und durch. Doch Bettina hat andere Pläne: «Erst zeige ich dir, wie die Angst funktioniert und mit welchen Tricks du sie in die Schranken weisen kannst.»

In aller Ruhe rollt sie ihre mitgebrachten Panels auf und erklärt, was mit dem Körper passiert, wenn die Angst durch dessen Glieder schleicht. Theoriestunde! Sie zeigt mir Bilder, auf denen Situationen in den Bergen zu sehen sind. Einen Klettersteig, eine Gratwanderung, den Aufstieg zum Oeschinensee, eine Seilbahnkabine in schwindelnder Höhe. Ich muss wählen, welches Bild mich besonders schaudern lässt. Klar, die Gratwanderung. Offenbar hilft das Bettina, mich besser einzuschätzen – und mir zu helfen.

«Mach mal langsam!» Die Coachin Bettina Atzgerstorfer beobachtet ihren Begleiter, LandLiebe-Autor Roland Grüter, und gibt ihm hilfreiche Tipps, wie er sicherer bergauf kommt.
Foto: Pascal Mora

«Angst ist eine normale Emotion, so wie Freude oder Ärger auch», sagt Bettina, «du wirst erleben, dass sie sich nicht ins Unendliche steigert, im Gegenteil. Indem du dich ihr stellst, wird sie mit der Zeit kleiner. Und lässt dich die Welt dann anders sehen. Denn längst nicht jeder Abgrund ist gefährlich, auch wenn du das vorgängig glaubst. Daran werden wir später arbeiten, oben am Berg.» Ich zucke zusammen, doch Bettina ist voller Zuversicht: «Für das Gelingen des Coachings ist es aber wichtig, dass du mir sagst und zeigst, wie du dich fühlst. Wenn es dir zum Heulen ist, dann heul. Wenn du eine sichere Hand brauchst, an der du dich festhalten willst – greif zu», sagt sie und schiebt mir ein filzernes Etui zu, in dem Kärtchen stecken. Darauf sind unter anderem Tipps zu finden, die mir bei künftigen Wanderungen helfen sollen, falls mich die Panik krallt. Absitzen, durchatmen, zuwarten.

Dann marschieren wir los. Es ist ein prächtiger Spätsommertag: blauer Himmel, saftige Alpwiesen, Kuhglockengebimmel. Die erste Wegstrecke führt durch einen schattigen Wald. «Du bist zu schnell», mahnt mich meine Begleiterin und tritt auf die Bremse, «marschierst du in diesem Tempo weiter, bist du innert kürzester Zeit matt. Weisst du, was dann passiert?» Ich schüttle den Kopf. «Dann werden deine Schritte unsicherer, die Angst wächst.» Verstanden, also zügle ich das Tempo. Ich lerne, dass Höhenangst in schätzungsweise siebzig Prozent aller Fälle auf Müdigkeit und Erschöpfung zurückgeht. Also Gemach. Andere meistern den Mythen in neunzig Minuten, wir aber werden rund zweieinhalb Stunden brauchen.

Beim ersten Aussichtspunkt stoppen wir. «Schau, wie schön», frohlockt Bettina Atzgerstorfer und fordert mich auf, näher an den Wegrand zu kommen. Ich zögere, strecke erst vorsichtig den Oberkörper vor und staune: Der vermeintlich steil abfallende Hang dahinter ist weniger gefährlich als gedacht. Ich tipple vorwärts. «Siehst du», sagt Bettina, «die Angst lässt dich die Welt schlimmer sehen, als sie ist.» Diesen Satz wiederholt sie auf dem Weg mehrmals, und sie hat recht damit.

«Festhalten, wo immer es möglich ist» – ein Trick, der Roland Grüter hilft.
Foto: Pascal Mora

Schritt ins Leere

Vor uns liegt Kurve drei. Ein Punkt, den ich mir bei meinem ersten Versuch, auf den Mythen zu kommen, gut gemerkt habe. Die Kurve macht eine enge Schleife und führt ins Nichts. Meine Muskeln versteifen sich, ich steigere das Tempo. Schnell jetzt, bloss nicht stehen bleiben. Doch Bettina Atzgerstorfer nimmt meine Hand. «Hier warten wir einen Moment, wie fühlst du dich?» – «Wie man sich halt am Rand eines Höllenschlunds fühlt, sieben!» – «Komm, wir atmen gemeinsam ein und aus. Schau nicht in die Tiefe, sondern in die Ferne. Stell deine beiden Füsse fest auf den Boden.» Ich gehorche. Der Puls beruhigt sich allmählich, der Horizont hört auf zu tanzen. Die Angst wird zur Sechs, zur Fünf.

Können von solchen Trainings alle profitieren? Bettina überlegt einen kurzen Moment. «Grundsätzlich ja, ausser es liegen biologische Dysfunktionen vor, etwa Störungen der Gleichgewichtsorgane. Auch Menschen mit tiefgründigeren psychischen Krankheiten, mit starken Depressionen oder Traumata, sind auf grössere Unterstützung angewiesen. Wir bieten keine Therapien, sondern Coachings an.» Im Schneckentempo steigen wir die Felswand hinauf. Wann immer möglich, kralle ich mich an die Drahtseile am Felsen, stütze mich ab. Und versuche, meine Füsse auf geraden Boden zu setzen – im Glauben, dass sie darauf besseren Halt finden. «Doch das Gegenteil ist der Fall», sagt meine Begleiterin, «der unebene Fels ist weit rutschfester als die lose Erde.» Ich versuche es. «Du musst unbedingt deine Trittsicherheit verbessern, idealerweise auch die Kondition», mahnt mich Bettina, «das gibt dir mehr Sicherheit, ein gutes Mittel gegen die Angst.» Vor allem das Gleichgewichtsgefühl lasse sich zu Hause gut und einfach trainieren – etwa durch einfaches Balancieren auf Baumstämmen. «So kann man körperliches Schwanken und damit potenzielle Schwindelanfälle reduzieren», erklärt die Coachin.

Juhui, die Angst schwindet!

Im Zickzack der Felswand wird die Fünf langsam zur Vier, dann sogar zur Drei. Sie steigert sich nur dann, wenn uns Wanderinnen und Wanderer auf dem schmalen Weg kreuzen. Dann lehne ich mich vorsichtig an den Felsen und lasse die anderen an der Aussenkante passieren. «Lass die andern mal an der Innenseite vorbei», sagt Bettina. Ich wage es – nichts passiert, ich werde mutiger. Die positiven Erlebnisse würden das Programm im Kopf umschreiben, hat mir Bettina unten im «Holzegg»-Stübli erklärt: «Die Angst ist zwar noch immer da, du wirst sie aber mit der Zeit in den Griff bekommen. Respektive durch positive Erlebnisse verlernen.» Das scheint tatsächlich zu funktionieren. Welch Wunder: Wir erreichen tatsächlich den Gipfel des Mythen. Ich atme durch und geniesse den Ausblick. Was für eine Erleichterung. Erstmals spüre ich ein wenig von dem, was mir viele Bergfreundinnen und -freunde vorschwärmen: die Freiheit, die man in Höhenlagen findet.

Roland Grüter schafft den Aufstieg auf den Grossen Mythen tatsächlich – und vespürt auf dessen Gipfel sogar Freude.
Foto: Pascal Mora

Nach einer weiteren Stunde sitzen wir wieder in der «Holzegg», dieses Mal aber im Restaurant vor einem Teller mit Salat und Schnitzel. Wir ziehen Bilanz. Bettina rät mir, bald wieder loszuziehen und das Höhentraining fortzusetzen. «Was du gerade erlebt hast, ist erst der Anfang», sagt sie, «du musst das wiederholen, und falls du es nicht alleine schaffst: einfach melden.» Der Kellner eilt herbei. Er kennt die Coachin und ihre Gäste. Mit freundlichem Lächeln schaut er mich an und fragt: «Und, wie war der Aufstieg?» Zu meiner eigenen Überraschung antworte ich: «Einfach.» Höchstens eine Zwei.


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