Psychische Gewalt im Elternhaus
So leicht werden Eltern ungewollt zu Tätern

Selten ist psychische Gewalt so deutlich wie in der aktuellen Netflix-Doku «Unknown Number», in der eine Mutter die Tochter bedroht. Oft sind es unbedachte Worte oder emotionale Strafen, die verletzen. Eine Psychologin zeigt an vier Beispielen, wie leicht es passiert.
Publiziert: 23.10.2025 um 11:48 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2025 um 12:05 Uhr
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Psychische Gewalt muss nicht laut sein – auch Schweigen gehört unter Umständen dazu.
Foto: Shutterstock

Darum gehts

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Jana GigerRedaktorin Service

Eine 13-Jährige bekommt über Monate hinweg Hassnachrichten von einer unbekannten Nummer, in denen sie bedroht und beleidigt wird. Nach zwei Jahren stellt sich heraus: Hinter dem «anonymen» Absender steckt die eigene Mutter des Mädchens. Der Fall aus den USA wird in der aktuellen Netflix-Doku «Unknown Number» erzählt. Er schockiert ein breites Publikum und war bereits in der ersten Woche nach der Veröffentlichung unter den zehn meistgesehenen Filmen auf Netflix.

«Solche extremen Fälle sind selten. Psychische Gewalt im Elternhaus tritt in weit subtileren Formen auf und bleibt häufig unentdeckt, weil sie für Betroffene und für Täter und Täterinnen schwer zu benennen ist», sagt Ramona Chicherio, Psychotherapeutin und Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). In ihrer Arbeit an der ZHAW befasst sie sich mit unterschiedlichen Aspekten der psychischen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien. Dazu zählt auch der Umgang mit psychischer Gewalt im Elternhaus. «Vielen ist gar nicht bewusst, dass ein bestimmtes Verhalten unter psychische Gewalt fällt.»

437 Fälle von psychischer Misshandlung

In der Schweiz gab es im Jahr 2024 laut der nationalen Kinderschutzstatistik 437 Fälle von psychischer Misshandlung gegen Kinder bis 17 Jahre. Zumindest waren das die Fälle, die gemeldet wurden. Gemäss der Expertin ist von einer höheren Dunkelziffer auszugehen, da psychische Gewalt schwer nachweisbar ist und viele Betroffene schweigen. 

Darunter fallen Beschimpfungen, Bedrohungen, Liebesentzug, übermässige Kontrolle, Einschüchterung und absichtliches Ignorieren der Bedürfnisse. «Es sind Verhaltensweisen, die wiederholt und systematisch passieren und die Jugendlichen emotional verletzen», sagt Chicherio. Ihrer Ansicht nach steckt eher selten eine bewusst kalkulierte Ausübung von Macht und Unterdrückung seitens der Eltern dahinter.

«Häufig ist der Übergang zwischen absichtlicher Schädigung und automatisierten Verhaltensmustern, die aus eigener Verletzung in der Kindheit entstanden sind, fliessend.» Auch wenn die psychologischen Hintergründe für das Verhalten der Eltern nachvollziehbar sein können, dürfe man sie nicht mit einer Entschuldigung verwechseln. «Die Folgen für die betroffenen Kinder bleiben gravierend.»

Ramona Chicherio, Psychotherapeutin und Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, betont, dass psychische Gewalt gravierende Folgen habe für betroffene Kinder.
Foto: er (Lee Li | Photography)

Seelisches Fundament wird erschüttert

Die Familie sei ein Ort von Sicherheit, Geborgenheit und emotionaler Unterstützung, sagt Chicherio. «Wenn die engste Bezugsperson zum Täter wird, gerät das Fundament der Psyche eines Kindes ins Wanken.» Das könne dazu führen, dass Kinder später verinnerlichen, Zuwendung nur durch Leistung, Anpassung oder das Erfüllen elterlicher Erwartungen zu verdienen. 

Zudem entwickeln die Betroffenen laut der Expertin häufig Glaubenssätze wie: «Ich bin wertlos», «Ich verdiene das», «Die Welt ist unberechenbar» oder «Andere Menschen wollen mir schaden». Sie seien innerlich ständig auf der Hut, damit sich das Erlebte nicht wiederhole. «Es gibt auch Jugendliche, die trotz psychischer Gewalt im Elternhaus eine gewisse Resilienz entwickeln und ihr Leben relativ stabil meistern.» 

Psychische Gewalt kann bei Betroffenen das Gefühl auslösen, hässlich oder nicht wertvoll zu sein.
Foto: Shutterstock

Psychische Gewalt kann unterschiedliche Formen annehmen – sie reicht von emotionaler Bestrafung über verbale Abwertung bis hin zu manipulativen Beziehungsmustern. Vier Situationen verdeutlichen das Spektrum: 

1. Der Vater spricht tagelang nicht mit der Tochter, weil sie eine schlechte Note bekommen hat. 

Chicherio sagt: «Durch Schweigen, Enttäuschung oder Liebesentzug bestraft der Vater seine Tochter emotional und verletzt ihr grundlegendes Bedürfnis nach Bindung und Sicherheit tief. Besonders hart ist es, wenn sich die Tochter wirklich angestrengt hat, aber einfach nicht in der Lage ist, bessere Leistungen zu erbringen. Diese Form der emotionalen Bestrafung wird oft unterschätzt oder missverstanden. Viele Eltern sagen: ‹Ich bin eben enttäuscht. Soll ich so tun, als wäre alles in Ordnung?› Doch für Jugendliche ist es extrem belastend, wenn sie emotionale Kälte oder Schweigen als Reaktion erleben.»

2. Die Mutter sagt zum Sohn: «Aus dir wird sowieso nichts.» 

«Solche radikal generalisierte Aussagen vermitteln nicht nur Kritik am Verhalten, sondern untergraben den Selbstwert des Kindes», sagt die Expertin. «Sie hinterlassen beim Teenager das Gefühl von: ‹Ich bin so und kann das nicht ändern›. Auch Sätze wie: ‹Mit deinem Körper würde ich jetzt nicht in die Badi gehen› sind verheerend. Auf den ersten Blick wirken sie vielleicht harmlos, doch wenn sie immer wiederkehren, sind sie hochgradig abwertend. Sie lösen beim Kind Scham und das Gefühl aus, hässlich oder nicht wertvoll zu sein. Oft wirken solche Überzeugungen bis ins Erwachsenenalter.»

3. Die Eltern verbieten der Tochter, sich mit Freunden zu treffen. 

Überbehütung ist gemäss Chicherio ein verbreitetes Thema. «Viele Eltern haben Angst um ihre Kinder, besonders wenn die Teenager sehr risikobereit sind. Handeln Eltern aus einer konkreten Sorge heraus, zum Beispiel, wenn sie sagen: ‹Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Freundesgruppe, weil dort Drogen konsumiert werden›, dann ist das nachvollziehbar. Problematisch wird es, wenn Überbehütung systematisch erfolgt und keine nachvollziehbare Begründung, sondern Macht und Kontrolle dahinterstecken. Dadurch schränken Eltern das Bedürfnis der Teenager nach Autonomie massiv ein.»

4. Die Eltern versuchen, nach der Trennung ihr Kind auf ihre Seite zu ziehen. 

«Allianzen gegen die Ex-Partnerin oder den Ex-Partner zu bilden, kann die Kinder belasten und seelische Schäden hinterlassen», so die Expertin. «Manche Eltern erzählen ihrem Kind im Detail, was der andere ‹falsch› gemacht hat, oder machen es zum Vertrauten in einem Konflikt. Für die Entwicklung ist es aber zentral, dass Kinder eine positive Beziehung zu beiden Elternteilen aufrechterhalten dürfen. Wenn Mütter oder Väter das in ihrer Wut oder Verletzung nicht mehr zulassen können, geraten die Kinder in Loyalitätskonflikte.»

«Psychische Gewalt hinterlässt zwar keine sichtbaren Spuren, doch ihre Folgen sind oft tiefgreifend», sagt Chicherio. Entscheidend sei, dass Eltern frühzeitig Unterstützung suchen, bevor automatisierte Muster zur seelischen Belastung für die Kinder werden.

Psychische Gewalt in der Familie? Hier findest du Hilfe
  • Opferhilfe Schweiz: bietet Beratung und Unterstützung bei psychischer und häuslicher Gewalt
  • Wir sind für dich da: das vertrauliche und kostenlose Telefon für Kinder & Jugendliche (Nummer: 147)
  • Elternnotruf: für Erziehungsfragen, in Krisen, bei Überforderung und Gewalt (Nummer: 0848 35 45 55)
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