Was Fachleute Eltern in Not raten
Bedroht und geschlagen – vom eigenen Kind

Häusliche Gewalt in Familien nimmt zu. Vermehrt wenden sich verzweifelte Eltern, die Angst vor ihrem Nachwuchs haben, an Fachstellen. In einzelnen Fällen zeigen sie ihre Kinder sogar an.
Publiziert: 27.04.2025 um 15:03 Uhr
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Aktualisiert: 27.04.2025 um 18:11 Uhr
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Yvonne Müller vom Elternnotruf rät, bei problematischen Entwicklungen frühzeitig zu handeln.
Foto: MARKUS LAMPRECHT

Darum gehts

  • Jugendliche greifen Eltern an, Fachleute berichten über zunehmende häusliche Gewalt
  • Eltern rufen Polizei bei Eskalation, Strafanzeigen sind selten
  • Über 250 Mal wurden Aggressionen von Kindern beim Elternnotruf angesprochen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Andreas SchmidInlandredaktor

Die Situation eskaliert. Weil der Vater ein Handyverbot verhängt oder weil die Mutter den Alkohol- und Drogenkonsum kritisiert. Wegen scheinbarer Bagatellen gehen Jugendliche auf ihre Eltern los, beschimpfen und schlagen sie, werfen Gegenstände, zücken sogar Messer.

Fachleute und Jugendanwälte schildern Situationen, in denen Minderjährige – meist sind es junge Männer – ihren Vätern und Müttern das Leben zur Hölle machen. «In unseren Telefonberatungen melden sich regelmässig Eltern, die Angst vor ihren Kindern haben, von ihnen verbal bedroht oder auch körperlich angegriffen werden», sagt Yvonne Müller vom Elternnotruf.

Drohung, Nötigung, Körperverletzung

In manchen Fällen wissen sich die betroffenen Erwachsenen nur noch mit einer Strafanzeige gegen den eigenen Nachwuchs zu helfen, so gross ist ihre Verzweiflung. Das geschehe «nicht oft, aber immer wieder», sagt Esther Pioppini, Sprecherin der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich. Gegenstand der Strafanzeige seien oft Drohung, Nötigung oder Körperverletzung. «Eltern rufen die Polizei, wenn die Situation eskaliert und der Leidensdruck sehr hoch ist.»

Ein Strafantrag gegen das eigene Kind stelle meist einen «Hilferuf» dar, pflichtet Adrian Schuler von der Aargauer Oberstaatsanwaltschaft bei. Simon Kopp von der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gibt zu bedenken, dass das Thema «stark schambehaftet und entsprechend tabuisiert» sei. Deshalb ist von einer Dunkelziffer auszugehen. Betroffen von Angriffen und Drohungen der Minderjährigen seien vor allem die Mütter, sagt Barbara Altermatt von der Jugendanwaltschaft des Kantons Solothurn.

Selten bis zum Letzten

Die angefragten Jugendanwaltschaften mehrerer Kantone geben übereinstimmend an, wiederholt mit Fällen von gewalttätigen Jugendlichen im Umfeld der Familie zu tun zu haben. Alle betonen aber auch, dass es nur in seltenen Fällen so weit komme, dass Eltern ihre Kinder anzeigten. Es sei eher so, dass die jeweils herbeigerufene Polizei deeskalierend wirken und einen Strafantrag verhindern könne, hält etwa Martin R. Schütz von der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt fest. Oder ein anfänglich gestellter Strafantrag werde wieder zurückgezogen.

Häusliche Gewalt im familiären Umfeld ist statistisch kaum erfasst, die Jugendanwaltschaften weisen diese Konstellation in ihren Fällen von Drohungen, Nötigungen und Körperverletzungen nicht separat aus.

Fachleute beobachten allerdings mehr Gewalttaten im heimischen Umfeld. Sei es von Eltern gegen ihre Kinder oder umgekehrt. Anja Meier von der Stiftung Pro Juventute sagt, sie stelle eine «besorgniserregende Zunahme» der Hilfesuchenden fest, die sich wegen häuslicher Gewalt meldeten.

Meier betont dabei, dass in der Mehrzahl der Fälle Kinder und Jugendliche von Gewalt betroffen seien. Die umgekehrte Konstellation, in denen die Aggressionen von diesen ausgehe und sich gegen die Eltern richte, sei zwar seltener, müsse aber ernst genommen werden.

Parlamentarischer Vorstoss

Das Problem zu ergründen und anzugehen, fordert auch die Waadtländer FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro (64) in einem Postulat. Sie beauftragt den Bundesrat, einen Bericht zur Gewalt zwischen Kindern und Eltern vorzulegen. De Quattro schreibt in ihrem Vorstoss, die Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern nehme zu. Es fehlten aber Zahlen und ein Überblick, weil es sich nach wie vor um ein Tabuthema handle.

In seiner Stellungnahme zum Postulat schreibt der Bundesrat, Gewaltprävention und Beratungsangebote seien Sache der Kantone, weshalb er den Vorstoss ablehne. Das Parlament hat de Quattros Vorstoss noch nicht behandelt.

Frühzeitiges Handeln

Yvonne Müller vom Elternnotruf sagt, in den Beratungen sei Gewalt innerhalb der Familie kein Thema. Dennoch hätten hilfesuchende Väter und Mütter letztes Jahr über 250 Mal Aggressionen und Angriffe ihrer Kinder angesprochen. In solchen Fällen rate der Notruf den Eltern, eine Beratungsstelle aufzusuchen, denn es gehe darum, sich innerhalb der Familie zu schützen. «Aus Scham warten viele Eltern sehr lange, bis sie sich Unterstützung holen.» Je früher aber Hilfe zugezogen werde, desto eher ist die problematische Entwicklung zu stoppen.»

Recherche-Hinweise

Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch

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In akuten Situationen von körperlicher Gewalt und heftiger Bedrohung durch Jugendliche rate sie Eltern zu deren Schutz oder zu jenem des Kindes, die Polizei zu holen. Die betroffenen Erwachsenen könnten Anzeige erstatten, was zu einer Meldung bei der Jugendanwaltschaft führe. «Wenn Eltern die Polizei als Erziehungsmassnahme beiziehen möchten, raten wir davon ab», betont Müller.

Vielfältige Ursachen

Die Stiftung Pro Juventute wird in ihrer Elternberatung regelmässig mit Gewalt von Minderjährigen gegen ihre Eltern konfrontiert. Ursache der Aggressionen seien vielfach persönliche Krisen sowie grosser Erwartungsdruck. «Die Jugendlichen sind oft überfordert und sehen keine Lösungen für ihre vielschichtigen Probleme», analysiert Anja Meier. Alkohol und Drogen seien zusätzliche Faktoren für Gewaltexzesse. Zudem wirken sich laut der Expertin Rollenbilder in den sozialen Medien negativ aus, indem sie junge Männer zu aggressivem Verhalten animierten.

Was Pro Juventute besorgt: Auf schnelle Hilfe angewiesene Minderjährige erhalten keine sachgerechte Unterstützung. «Die langen Wartezeiten in Kinder- und Jugendpsychiatrien sind ein gravierendes Problem», sagt Meier.

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