Phänomen Emetophobie
Hast du Panik vorm Erbrechen?

Emetophobie lässt Betroffene ihr ganzes Leben umstellen: Von den Mahlzeiten bis hin zu den Verkehrsmitteln, die sie nutzen. Facharzt Jochen Mutschler erläutert die Diagnose und Therapiemöglichkeiten dieser oft verkannten Angststörung.
Publiziert: 17:46 Uhr
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Aktualisiert: 17:57 Uhr
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Angststörungen können in allen Bereichen des Lebens auftreten.
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Darum gehts

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Olivia RuffinerRedaktorin

Lia F.* steigt aus dem Zug aus. Es ist noch nicht ihre Haltestelle, aber sie schafft es nicht, weiterzufahren. Ihre Angst, durch die Fahrzeugbewegungen erbrechen zu müssen, ist viel zu gross. Lia leidet unter Emetophobie.

Emetophobie ist mehr als nur das Ekelgefühl vor dem Erbrechen, es ist eine irrationale Angst bis hin zur Panik davor. Während sich manche wie Lia F. davor fürchten, sich selbst übergeben zu müssen, haben andere Angst, mit dem Erbrechen anderer Menschen konfrontiert zu werden.

«Tatsächlich ist es eine eher selten auftretende Form der spezifischen Angststörung», sagt Jochen Mutschler (48), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt der stationären Dienste der Luzerner Psychiatrie. Angststörungen treten generell häufig auf, aber nur bei gut zehn Prozent sind spezifische Auslöser wie Höhen, Spinnen oder eben Erbrechen die Ursache.

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Emetophobie wird oft fehldiagnositiziert

Ein Grund für die Seltenheit von Emetophobie sind Fehldiagnosen. Lia F. isst beispielsweise am liebsten Fertigpizza, da diese gefroren ist und sehr heiss gebacken wird. Bei lang warmgehaltenen Speisen stellt sie sich die Bakterien vor, die sich darauf vermehren könnten, und hat Angst, davon krank zu werden. Sie isst wenig und nur, wenn sie muss. Alles, was in ihren Körper gelangt, könnte ein Auslöser sein. «Dieses Verhalten könnte man auch als Essstörung diagnostizieren», sagt Mutschler, der selbst nur eine Handvoll Patientinnen und Patienten mit Emetophobie behandelte.

Hinzu kommt, dass die Emetophobie noch ein relativ junges Forschungsgebiet ist. Die ersten wissenschaftlichen Beschreibungen davon stammen aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Wenn sich Patientinnen mit Symptomen wie Herzrasen, Schwindel und Schweissausbrüchen präsentierten, wurde eher eine generelle Panikstörung diagnostiziert.

Das ist auch heute noch der Fall: «Niemand kommt in die Praxis und sagt: ‹Ich bin Emetophobikerin.›» Die feminine Formulierung ist bewusst gewählt, denn die meisten Betroffenen sind Frauen. «Generell leiden Frauen mehr an Angststörungen als Männer», sagt Mutschler.

Auslöser meist in der Kindheit

Heute ist Emetophobie als spezifische Angststörung bekannt. Dabei wird zwischen der Angst, sich selbst übergeben zu müssen, und der Angst, anderen dabei zuzusehen, unterschieden. «Die Mechanik dahinter ist aber dieselbe», sagt Mutschler. 

In systematischen Befragungen von Betroffenen zeigte sich, dass viele bereits in der Kindheit eine traumatische oder eindrucksvolle Begegnung mit Erbrechen hatten, wodurch die Angst verankert wurde. Die ersten Symptome können sich daher bereits im Alter von neun oder zehn Jahren zeigen. Bis Betroffene sich dann Hilfe holen, dauert es jedoch etwas länger.

Wenn man wie Lia F. riskiert, zu spät zur Arbeit zu kommen, weil man aus dem Zug aussteigt, oder wenn man nicht mehr an gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen kann, weil man Angst hat, jemanden beim Erbrechen zu sehen, dann ist es angebracht, professionelle Hilfe zu holen, meint Mutschler. «Wir sagen: Sobald ein Leidensdruck bei den Patienten besteht und es zu einer Funktionsbeeinträchtigung kommt, sollte eine Behandlung stattfinden.» 

Konfrontation ist möglich

Die Emetophobie wird psychotherapeutisch behandelt, in der Regel mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen. Dabei wird individuell eine Hierarchie der angstauslösenden Situationen aufgestellt. Bei Lia F. wären Buffets und öffentliche Verkehrsmittel auf dem höchsten Treppchen, Videos von erbrechenden Menschen hingegen weiter unten. «So arbeitet man sich diese Treppen durch, konfrontiert die Patientin und versucht, ein vorher eingeübtes Entspannungsprogramm ablaufen zu lassen», sagt Mutschler. Diese Form der Therapie nennt sich Exposition.

Auch bei sich selbst kann angesetzt werden: Wenn du bemerkst, dass du bestimmte Situationen aus einem bestimmten Grund zu meiden beginnst, versuche, Gegensteuer zu geben. Je länger das Vermeidungsverhalten besteht, desto grösser kann es auch werden. Umgekehrt kann es durch Exposition wieder kleiner werden.

Das merkte auch Lia bei ihrem dritten Restaurantbesuch. Sie probierte ein Gericht, das sie sonst strikt vermied: Sushi. Einfach, weil sie Lust darauf hatte.

*Name der Redaktion bekannt. 

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