Bei mir hat es mit zehn Jahren angefangen. Ich konnte die Schrift an der Wandtafel nicht mehr richtig lesen. Der Lehrer hat es bemerkt, dann gings zum Optiker, und bald war ich die vierte «Brillenschlange» in der Klasse.
Später las ich dann diverse «Vergiss deine Brille»-Bücher» und übte zeitweise fleissig – doch die Brille blieb. Später kam zur Kurzsichtigkeit noch ein Problem dazu. Ich sah abends die Rücklichter der Velos vor mir doppelt. Nach einem Tag am Computer tanzten die Buchstaben vor meinen Augen, und manchmal musste ich ein Auge zukneifen, um mich sicher durch das Gewühl auf der Zürcher Quai-Brücke zu schlängeln. Der Augenarzt diagnostizierte ein verstecktes Schielen und riet zu einer prismatischen Brille. Doch ich erinnerte mich an meine Brille-weg-Bücher. Vielleicht würden die wenigstens hier helfen. Ich übte Augenschwingen, Palmieren und Fokussieren und stellte eine Verbesserung fest. Doch die Doppelbilder kamen zurück. Machte ich die falschen Übungen? Ich suchte nach fachmännischem Rat und landete schliesslich im Sehzentrum Zürich.
Auch die Augen kann man trainieren
Markus Hofmann, der dort die Abteilung Visual Training leitet, führte mich durch eine Reihe von Tests, mit denen er vor allem das Zusammenspiel der beiden Augen prüfte. Dann empfahl er mir ein paar Übungen und rüstete mich mit den nötigen «Spielzeugen» aus – eine Schnur mit drei farbigen Kugeln, eine Kartonbrille mit roten und grünen Gläsern und ein paar Bögen mit Doppelbildern.
«Nach diesem Eingangstest bespreche ich mit den Kunden das weitere Vorgehen», erklärt Hofmann. Ist eine (neue) Brille nötig? Kann man das Problem mit Übungen lösen? Wenn ja, braucht es weitere Trainingsstunden im Sehzentrum?
Sehen und Seele hängen zusammen
Visuelles Training hilft nicht nur bei Kurz- oder Weitsichtigkeit oder bei der Koordination beider Augen, sondern etwa auch bei Kopfschmerzen, Wahrnehmungsdefiziten oder Problemen mit der Nahsicht. Hoffmann hat auch viele Kunden, die nach Ereignissen wie Unfällen, Scheidungen oder Schlaganfällen visuelle Probleme haben. Sehen und Seele hängen eng zusammen. 80 Prozent unserer Sinneseindrücke werden über das Auge vermittelt.
Gutes Sehen ist nicht nur eine Frage von Linse, Brechwinkel und Netzhaut, sondern ein komplexer Vorgang, bei dem beide Augen und das Gehirn lernen müssen, eng zusammenzuarbeiten. Dieser Lernprozess ist meist noch nicht abgeschlossen, wenn das Lesenlernen beginnt.
Beim Lesen müssen beide Augen langsam über eine Textlinie gleiten und dazwischen immer wieder von Zeile zu Zeile oder von der Wandtafel zum Heft springen. Gleichzeitig muss das Gehirn das Gesehene einordnen und verarbeiten.
Wenn die Schule zur Qual wird
Viele Schulkinder schaffen das noch nicht. Für sie wird die Schule zur Qual. Sie halten den Kopf schief, decken ein Auge mit der Hand ab, klagen über Kopfschmerzen und werden als Legastheniker abgestempelt. Hier hilft ein Augentraining fast immer.
Hätte ich mit einem solchen Training damals die Brille vermeiden können? «Wenn Sie fleissig geübt und Ihr Verhalten angepasst hätten, ja», meint Hofmann. Sind die Fehler jedoch schon mal jahrelang eingeschliffen, dann sei der Verzicht auf eine Brille ein sehr ehrgeiziges Ziel.
Auch meine Doppelbilder kommen ab und zu wieder zurück, aber ich weiss jetzt, wie ich meine zwei Augen wieder zum Harmonieren bringen kann.
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