«Es ist enorm anstrengend»
Wenn Vater UND Kind ADHS haben

Rund 500‘000 Menschen in der Schweiz haben ADHS. Die neurologische Entwicklungsstörung ist erblich. Der Blogger und Autor Markus Tschannen hat ein Buch über sein herausforderndes, aber buntes Familienleben mit ADHS im Doppelpack geschrieben.
Publiziert: 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 16:52 Uhr
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Markus Tschannen ist Autor, Blogger und Mediensprecher im Tourismus. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in der Nähe von Bern.
Foto: zVg

Darum gehts

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«Ganz ehrlich – ich hoffe es nicht», sagt Markus Tschannen. Selbstverständlich hängt seine Vaterliebe zu seinem wenige Wochen alten dritten Kind nicht davon ab, ob dieses ADHS hat oder nicht. Aber könnte er auf einem Formular ankreuzen, würde er lieber verzichten. Denn Tschannen weiss genau, was die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätstörung fürs Familienleben bedeutet. Sowohl als selbst Betroffener als auch als Vater eines Kindes mit ADHS. Kurz zusammengefasst: «Es ist enorm anstrengend.»

Es ist nie still im Kopf

Seine Erfahrungen im doppelten ADHS-Haushalt hat Markus Tschannen in seinem neuen Buch «Wir schaffen das, mein SchADHS – Überleben im Alltag als neurodiverse Familie» niedergeschrieben. «Es gibt so viele Ratgeber – ich habe einige davon angefangen und nie zu Ende gelesen», so der Autor. «Ich wollte auf eine humorvolle Art und Weise zeigen, was es im Alltag wirklich heisst, wenn man als Familie betroffen ist – in unserem Fall sogar doppelt.» 

Markus Tschannens wichtigste Tipps für ADHS-betroffene Familien
  1. Nicht aus Angst vor Stigmatisierung auf eine Diagnose verzichten: «Symptome wie Hyperaktvität oder Impulsivität ohne Diagnose werden viel mehr stigmatisiert, als wenn das Umfeld die Gründe dafür kennt.»
  2. Sich informieren: «Mir persönlich hat es sehr geholfen, zu wissen, was in unseren Hirnen passiert. Auch, weil mein Kind und ich teilweise unterschiedliche Symptome haben, und man ADHS eben nicht nur über diese definieren kann.»
  3. Offen sein: «Weder Medikamente noch Psychotherapien werden einfach alle Probleme lösen. Aber es kann sich lohnen, es auszuprobieren und zu schauen, ob etwas positive Wirkungen auf einen Aspekt hat.»
  4. ADHS als Erklärung, aber nicht als Ausrede brauchen: «Es kann auch für Betroffene schwer zu bestimmen sein, ob ein gewisses Verhalten am ADHS liegt oder nicht. Aber alles damit zu erklären, ist zu einfach. Und mühsam für die Nicht-Betroffenen in der Familie.»
  5. Überlegen, wen man informieren möchte: «Bei Kindern ist es unverzichtbar, das Gespräch mit den Lehrpersonen zu suchen. Ob man die anderen Kinder, beziehungsweise deren Eltern ebenfalls informieren möchte, ist einem selbst überlassen. Ich würde es empfehlen – siehe Punkt 1. Ich selbst habe diejenigen informiert, bei denen ich fand, es macht Sinn, aber nicht jeden einzelnen Arbeitskollegen. Die erfahrens ja nun mit dem Buch.»
  1. Nicht aus Angst vor Stigmatisierung auf eine Diagnose verzichten: «Symptome wie Hyperaktvität oder Impulsivität ohne Diagnose werden viel mehr stigmatisiert, als wenn das Umfeld die Gründe dafür kennt.»
  2. Sich informieren: «Mir persönlich hat es sehr geholfen, zu wissen, was in unseren Hirnen passiert. Auch, weil mein Kind und ich teilweise unterschiedliche Symptome haben, und man ADHS eben nicht nur über diese definieren kann.»
  3. Offen sein: «Weder Medikamente noch Psychotherapien werden einfach alle Probleme lösen. Aber es kann sich lohnen, es auszuprobieren und zu schauen, ob etwas positive Wirkungen auf einen Aspekt hat.»
  4. ADHS als Erklärung, aber nicht als Ausrede brauchen: «Es kann auch für Betroffene schwer zu bestimmen sein, ob ein gewisses Verhalten am ADHS liegt oder nicht. Aber alles damit zu erklären, ist zu einfach. Und mühsam für die Nicht-Betroffenen in der Familie.»
  5. Überlegen, wen man informieren möchte: «Bei Kindern ist es unverzichtbar, das Gespräch mit den Lehrpersonen zu suchen. Ob man die anderen Kinder, beziehungsweise deren Eltern ebenfalls informieren möchte, ist einem selbst überlassen. Ich würde es empfehlen – siehe Punkt 1. Ich selbst habe diejenigen informiert, bei denen ich fand, es macht Sinn, aber nicht jeden einzelnen Arbeitskollegen. Die erfahrens ja nun mit dem Buch.»

Sein ältestes Kind, Tschannen nennt es im Buch «der Brecht» (er verrät weder die Namen noch das Geschlecht seiner drei Kinder), hat die Diagnose mit acht Jahren erhalten. Einer Lehrperson waren einige typische Verhaltensmuster aufgefallen, die sie für abklärungswürdig hielt. Markus Tschannen liess sich im Anschluss ebenfalls abklären. Eine Überraschung sei die Diagnose nicht gewesen. «Eher eine Erleichterung. Es hilft, zu wissen, warum es im Kopf nie still ist.»

Zwei Stunden zum Zähneputzen

ADHS sei in erster Linie eine Regulierungsstörung, sagt Markus Tschannen. Man filtert Sinneseindrücke anders, Gedanken und Emotionen zu regulieren ist schwieriger als für andere. Das Hirn gewöhnt sich an ständige Impulse – kommen sie nicht von aussen, suchen sie sich Betroffene selbst. Das alles führt zu Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität und Impulsivität. Wobei dies sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Zudem gibt es eine ganze Reihe anderer Symptome. Die Diagnose ADHS hat viele Gesichter und sehr unterschiedliche Geschichten. So spricht Markus Tschannen in seinem eigenen Fall von einer «typischen ADHS-Schulkarriere» mit viel Gezappel, einer Rolle als Klassenclown und unterschiedlichsten Therapien bei diversen Psychologen – «keiner hat je den Begriff ADHS in den Mund genommen». «Der Brecht» hingegen hat gute Noten und bisher kaum Probleme in der Schule. 

Zu Hause sorgt das Kind allerdings regelmässig für dicke Luft. «Sollte es zum Beispiel Zähne putzen, kann es – und ich übertreibe nicht – zwei Stunden lang mit der Zahnbürste im Bad stehen, singen, tanzen, Selbstgespräche führen.» Dinge, die normalerweise ein paar Minuten dauern, können sich ewig in die Länge ziehen. Wer dauernd von seinen eigenen Gedanken abgelenkt wird, vergisst halt die Zahnbürste in der Hand. Abläufe, die bei anderen automatisiert sind, müssen bei vielen ADHS-Betroffenen bewusst geschehen: Zahnbürste in die Hand nehmen, Zahnpastatube öffnen, Zahnpasta auf die Bürste, Bürste in den Mund, ... 

«Wir schaffen das, mein SchADHS – Überleben im Alltag als neurodiverse Familie» gibts jetzt im Buchhandel.
Foto: zVg

Und der Papa, der eigentlich ganz viel Verständnis haben müsste, weil er genau weiss, wie sich das Gepurzel im Kopf anfühlt, ist gestresst, weil er dafür verantwortlich ist, dass das Kind den Schulbus erwischt. Nach zweimal Mahnen wirds laut – und die Situation eskaliert. «Und ich bin hässig. Vor allem auf mich selbst.» Er habe glücklicherweise kein Problem damit, sich zu entschuldigen, so Markus Tschannen. Und: «Solche Situationen kommen nicht mehr ganz so oft vor, es ist schon viel besser geworden.» Denn eigentlich weiss er, was zu tun ist: sanftes Führen, viel Geduld. Aber eben: Gedanken und Gefühle lassen sich schlecht kontrollieren. «Konzentrier dich doch mal kurz» oder «Denk halt einfach an etwas anderes» geht bei ADHS nicht. Tschannen: «Wir können uns schlecht selbst regulieren.»

Wundermittel Humor

Der grösste Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern mit ADHS: Erwachsene können Strategien entwickeln, um mit gewissen Situationen umzugehen oder ihnen vorzubeugen. So hat Markus Tschannen mittlerweile sein Zeitmanagement besser im Griff als die meisten neurotypischen Menschen – «gerade weil ich weiss, dass ich ohne Planung im Chaos versinken würde». Kinder können das noch nicht und brauchen Unterstützung. 

Medikamente haben beide ausprobiert, Markus einige Male zum Testen, «der Brecht» hat zwei Jahre lang regelmässig den Wirkstoff Methylphenidat, kurz MPH, genommen. «Mich haben einige Effekte gestört. Beim Kind hat sich vor allem die Konzentrationsfähigkeit eine Weile lang frappant verbessert. Doch mit der Zeit liess die Wirkung nach, deshalb haben wirs wieder abgesetzt.» (Achtung: Bei Menschen ohne ADHS wirkt MPH nicht konzentrationsfördernd!) Zumal starke Nebenwirkungen, wie Schlafprobleme oder Appetitlosigkeit auftreten können, und «der Brecht» sowieso schon schlecht schläft. 

Das «Wundermittel» der Tschannens: Humor. Und so kommt Markus Tschannen am Ende seines Buches zum Schluss: «Mit Humor und einem tollen Zusammenhalt haben wir bisher noch jede kleine Krise bewältigt und jede grössere Krise abgewendet. Ich bin zuversichtlich, dass das auch bei künftigen Herausforderungen mit drei Kindern so sein wird.»

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