Darum gehts
Blick: Sie sind selbst gesichtsblind. Wie gehen Sie damit um?
Eric Salbert: Ich gehe heute viel offener damit um als früher. Freunde, Bekannte und auch meine Kollegen wissen Bescheid. Trotzdem nutze ich noch viele Vermeidungsstrategien. In der Kita zum Beispiel grüsse ich lieber alle im Umkreis, damit ich niemanden übersehe oder doppelt grüsse.
Wie reagieren die Menschen darauf, wenn Sie von Ihrer Gesichtsblindheit erzählen?
In den meisten Fällen sehr positiv. Ich erkläre kurz, dass es eine neurologische Veranlagung ist, dass ich Gesichter zwar sehe, sie mir aber nicht merken kann. Viele reagieren interessiert, etwa 90 Prozent zeigen Verständnis. Es gibt aber auch Menschen, die meinen, ich sei desinteressiert oder einfach unaufmerksam.
Wie fühlt sich die Gesichtsblindheit an?
Ich sehe Gesichter wie andere Menschen auch, nehme die Merkmale schon wahr, nur kann ich sie nicht wiedererkennen. Es macht nicht sofort «klick», sondern ich muss aktiv überlegen: lange Haare, eine bestimmte Jacke oder ein Schmuckstück. Das dauert oft ein bis zwei Sekunden – manchmal klappt es auch gar nicht. Besonders schwierig sind spontane Begegnungen. Dann fehlt zusätzlich der Kontext.
Welche Situationen sind am belastendsten?
Vor allem Momente in der Nachbarschaft und im Beruf. Ich halte mit den Nachbarn Smalltalk und später begegne ich ihnen wieder auf der Strasse, erkenne sie aber nicht. Das kann unhöflich wirken. Schwierig ist es auch in Berufen mit wechselnden Kontakten oder Netzwerkanlässen. Ich hörte die Geschichte eines Betroffenen, der nach einem Schlaganfall gesichtsblind wurde und fast sein ganzes Netzwerk verlor, weil er befürchten musste, als nicht mehr vertrauenswürdig zu gelten. Dabei spielte vermutlich auch seine eigene Angst vor einem offenen Umgang eine Rolle.
Welche Fettnäpfchen gibt es für Nichtbetroffene?
Unangenehm wird es vor allem, wenn man erwartet, erkannt zu werden. Es hilft, bei der Begegnung nochmals kurz den Namen zu sagen, etwa «Hi, ich bins, Claudia.» Das nimmt den Druck. Und wichtig: Das Nicht-Grüssen ist keine Absicht. Viele Betroffene schämen sich, wenn ihnen genau das passiert.
Was wünschen Sie sich von Ihrem Umfeld?
Soziale Anlässe können bei mir grosse Stressgefühle auslösen. Es hilft, wenn man mir davor sagt, wer alles zum Treffen kommen wird. Im Alltag unterstützt mich meine Frau, indem sie mir bei Begegnungen kurz den Namen zuruft: «Ach guck, da sind Noah und Nadine.»
Was sind Ihre Notfallstrategien?
Im Zweifel lieber zweimal grüssen als gar nicht. In den meisten Fällen kann ich beim Smalltalk oder durch das Stellen von offenen Fragen herausfinden, mit wem ich spreche. Oft erkenne ich auch jemanden an der Stimme oder daran, was er erzählt. Und ich bin gern überpünktlich – dann müssen mich die anderen finden, nicht umgekehrt. Das Smartphone hat auch einiges erleichtert.
Warum merken viele erst spät, dass sie gesichtsblind sind?
In der Kindheit wird es oft als Schüchternheit gedeutet. Viele glauben lange, dass es allen so geht. Bei mir kam hinzu, dass ich auf einem Auge sehr schlecht sehe, da wurden meine Schwierigkeiten zuerst auf die Sehschwäche geschoben. Manche Betroffene erfahren erst im Erwachsenenalter oder sogar im Ruhestand, dass es überhaupt einen Namen für diese Probleme gibt.
Zum Schluss: Welchen Tipp haben Sie für Menschen, die ebenfalls davon betroffen sind oder vielleicht erst via diesen Beitrag von ihrer Gesichtsblindheit erfahren?
Für einen offenen Umgang ist es sehr hilfreich, nicht nur auf die Defizite zu schauen. Schliesslich wird durch die fehlende Gesichtserkennung eine höhere Aufmerksamkeit auf andere Aspekte geschult, was durchaus zu neuen Stärken führen kann.