Verträumt – und oft übersehen
Das stille Leiden der Kinder mit ADS

Alle reden von ADHS. Aber das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität (ADS) betrifft Tausende Kinder in der Schweiz. Weil sie sich kaum auffällig verhalten, bleibt die Störung oft unentdeckt. Fachfrau Susanne Spalinger erklärt, was Eltern wissen müssen.
Publiziert: 12:03 Uhr
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Aktualisiert: vor 31 Minuten
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Kinder mit ADS fallen in der Schule oft lange nicht auf.
Foto: IMAGO/Zoonar

Darum gehts

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Maja ZivadinovicFreie Journalistin Service-Team

Kinder mit ADS stören nicht, sondern wirken still und verträumt. Ihre Problematik wird oft mit Desinteresse oder Faulheit verwechselt. Dabei leiden sie unter Konzentrationsschwierigkeiten, innerer Unruhe und einem hohen Leistungsdruck – ohne dass ihre Umgebung die wahren Ursachen erkennt.

Was Eltern, Lehr- und Fachpersonen wissen sollten, erklärt Susanne Spalinger, Co-Geschäftsführerin und Fachstellenleiterin der ADHS-Organisation Elpos Schweiz, im Interview.

Blick: In welchem Alter zeigen Kinder erste Anzeichen von ADS?
Susanne Spalinger: Diese können schon im Vorschulalter sichtbar werden, etwa durch auffallende Tagträumerei, Vergesslichkeit, langsames Arbeiten oder Probleme, Anweisungen zu folgen. Deutlich erkennbar und zuverlässig abklärbar werden die Symptome meist ab dem Schuleintritt, wenn die Anforderungen an Aufmerksamkeit und Organisation steigen. 

Was sind sonst noch typische Symptome?
ADS ist eine Unterform von ADHS, bei der die Hyperaktivität fehlt. So sind betroffene Kinder verträumt, wirken abwesend, haben wenig Ressourcen für Zeitmanagement, lassen Dinge liegen und vergessen auch mal die Ufzgi. Was wie Larifari wirken kann, ist oft innerlich mit einem grossen Leidensdruck des betroffenen Kindes verbunden.

Können schon Säuglinge Anzeichen von ADS zeigen?
Manche Babys mit später diagnostiziertem ADS zeigen eine auffällige Unruhe, schlafen schlecht, schreien überdurchschnittlich viel oder reagieren sehr empfindlich auf Reize. Diese frühen Anzeichen sind aber unspezifisch und können viele andere Ursachen haben. Eine verlässliche Abklärung ist erst im späteren Kindesalter möglich.

Wieso?
Mädchen sind oft angepasster. Sie lernen früh, ihr Leiden zu maskieren. In der Schule schaffen sie es, ihr ADS zu verbergen. Sie erzielen in Fächern, die sie interessieren, gute Leistungen. In anderen Fächern, die ihnen nicht liegen, kriegen sie es hin, sich durchzumogeln. 

Wie sieht es denn bei den Buben aus?
Da kommt man in der Regel schneller drauf, dass ihrem Verhalten und einer möglichen Lernschwäche ein ADS zugrunde liegen könnte. Der Grund ist simpel: Jungs sind da oft pragmatischer als Mädchen, was Anpassung angeht. Sie hängen ab, zeigen kaum Interesse für Fächer, die ihre Neugier nicht wecken. Anderseits können aber genau die gleichen Buben bei Fächern, die ihnen liegen, sehr aktiv sein und gute Noten erhalten.

Susanne Spalinger ist Co-Geschäftsleiterin der ADHS-Organisation elpos Schweiz, Fachstelle Zürich.
Foto: zVg

Wenn ein Verdacht besteht: Ab wann sollen Eltern ihre Kinder abklären lassen?
Sobald Eltern, Lehrpersonen oder andere Bezugspersonen merken, dass die Aufmerksamkeit, Impulsivität oder das Verhalten eines Kindes deutlich vom Altersdurchschnitt abweichen und das Kind dadurch im Alltag, in der Schule oder im sozialen Umfeld spürbar belastet ist, lohnt sich eine Abklärung. Es geht weniger um ein bestimmtes Alter, sondern darum, ob die Schwierigkeiten dauerhaft bestehen und die Entwicklung beeinträchtigen. Ist die Diagnose gestellt, kann man betroffenen Kindern und ihren Eltern Unterstützung anbieten. Ganz wichtig ist auch gute Aufklärung. Eltern sollen wissen, dass ihr Kind anders ist und dass eben dieses Kind auch anders völlig in Ordnung ist. 

Wann und wie soll man mit einem Kind über sein ADS sprechen?
Sobald es selbst Fragen stellt oder merkt, dass es in gewissen Situationen anders reagiert als andere. Wichtig ist, ehrlich und gleichzeitig positiv zu erklären: ADS ist keine Schwäche, sondern bedeutet, dass das Gehirn anders funktioniert. Eltern können kindgerechte Bilder oder Vergleiche nutzen («Dein Kopf hat ganz viele Ideen gleichzeitig»). Entscheidend ist, das Kind zu stärken, Verständnis zu vermitteln und gemeinsam Strategien zu entwickeln, anstatt nur auf Schwierigkeiten hinzuweisen.

Was sind die Herausforderungen für betroffene Familien?
Zum einen die Entladungen daheim. Während Kinder mit ADS in der Schule und im Kindergarten meist nicht auffallen, lassen sie zu Hause oft ihre grossen Gefühle raus. Anderseits ist es nicht immer einfach für Eltern zu akzeptieren, dass ihr Kind gewisse Sachen, die es in seinem Alter eigentlich können sollte, nicht kann. Wenn dann auch noch Urteile aus dem Familien- oder Freundeskreis gefällt werden, kann es besonders anstrengend sein. Sätze wie «Ihr verwöhnt euer Kind» helfen nicht. Wichtig ist: Ein Kind mit ADS scheitert nicht, weil es zu verwöhnt oder zu faul ist, sein Gehirn funktioniert halt anders.

Wie können Eltern ihr Kind unterstützen und fördern?
Durch klare Strukturen, kurze Anweisungen, viel Ermutigung, Lob und Geduld sowie bei Bedarf fachliche Hilfe. Eine Zusammenarbeit mit der Schule und dem Kinderarzt macht viel Sinn. Wenn Eltern daheim am gleichen Strick ziehen wie die Schule, können Kindern mit ADS sowohl das Lernen als auch alltägliche Sachen erleichtert werden.

Ist ADS vererblich?
Ein genetischer Faktor ist absolut gegeben. In rund 70 bis 80 Prozent beobachten wir, dass auch andere Familienmitglieder betroffen sind.

Verändert sich ADS mit der Zeit?
Ja. In der Kindheit zeigt sich vor allem Unaufmerksamkeit, in der Pubertät treten innere Unruhe und Organisationsprobleme stärker auf, im Erwachsenenalter vor allem Schwierigkeiten im Alltag und Beruf. Deshalb ist es wichtig, eigene Strategien zu entwickeln und ein Umfeld zu finden, in dem die Stärken gelebt werden können.

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