Foto: Stefan Bohrer

Nun erzählt Elisabeth Meister ihre Geschichte öffentlich
Die Schweizer Behörden zwangen sie, ihr Kind wegzugeben

Unverheiratet schwanger. Eine Schande. Elisabeth Meister gab in einer Zeit strenger Moralvorstellungen ihre Tochter zur Adoption frei. Sie weiss inzwischen: Sie konnte gar nicht anders.
Publiziert: 10.05.2025 um 16:44 Uhr
|
Aktualisiert: 10.05.2025 um 16:46 Uhr

Darum gehts

  • Elisabeth Meister erzählt ihre Geschichte einer Zwangsadoption in den 1960er-Jahren
  • Gefühl der Scham prägte ihr Leben
  • Fast 15 Jahre lang arbeitete sie an ihrem Buch «Amputierte Mutter»
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Gefallenes Mädchen. Gefährdete Tochter. Liederlich. Verdorben. Mannstoll. Allesamt Zuschreibungen, die Elisabeth Meister (73) in ihrer Akte im Stadtarchiv über sich selbst lesen musste. Doch nicht nur in den Augen der Behörden war die Schwangerschaft der damals 16-jährigen Elisabeth eine Schande.

Auch ihre Familie wandte sich von ihr ab. Ihr Vater ohrfeigte sie und sprach nicht mehr mit ihr. Ihre Mutter wollte die Geburt des Enkelkindes verhindern: Elisabeth sollte eine Fehlgeburt haben. Die Mutter liess sie im Estrich von Treppenabsatz zu Treppenabsatz springen. Immer wieder. Tag für Tag.

Aufgeklärt war sie nicht

Zürich, 1969. Elisabeth war bei ihrem ersten Mal schwanger geworden. Wie ein Kind entsteht, wusste sie nicht. Entsprechend kicherte sie unbesorgt mit ihrer Freundin auf dem Heimweg nach dem kurzen Intermezzo mit einem Keyboarder, der sie an jenem Abend in der «Blow Up»-Bar im Zürcher Niederdorf umworben und sie dann, «um etwas zu holen», auf sein Zimmer eingeladen hatte.

Junge Erwachsene in einem Discoclub in Zürich in den 1960er-Jahren.
Foto: Keystone

Ein paar Minuten nur war sie ausgebrochen aus ihrem Leben, in dem alles in geregelten Bahnen verlief. Ein Leben, in dem penibel geputzten Treppenhäusern im Mietshaus viel Wert beigemessen wurde, ebenso wie dem strikten Einhalten von Waschtagen. Hörte man die Nachbarn durch die dünnen Wände streiten, tat man bei der nächsten Begegnung so, als wäre nichts. 

Die Hippies feierten die freie Liebe; auch in Zürich wollten Junge mehr Freiheiten und weniger Moral und gingen dafür auf die Strasse. Über sich selbst und ihre Freundinnen sagt Elisabeth Meister rückblickend aber: «Wir waren naiv und bürgerlich geprägt. Wir fühlten uns nicht eingeengt. Unser Leben war einfach so. Und fertig.» 

«Wir waren naiv und bürgerlich geprägt»: Teenager vor dem Schauspielhaus Zürich, 1960.
Foto: ullstein bild via Getty Images

Dass in dieser kleinkarierten Gesellschaft nur mitmachen darf, wer sich an die ungeschriebenen Regeln hält, bekam sie mit voller Härte zu spüren. Die Schwangerschaft: ein Skandal, den ihre Familie möglichst geheim halten wollte. Als das Treppenspringen nichts bewirkte, schickten ihre Eltern sie «hinter die sieben Berge». Offiziell war die Tochter in einem Welschlandjahr. «Doch alle wussten, was los war.»

Sie will sich nicht mehr schämen

Nun soll auch die heutige Schweiz erfahren, was los war. Elisabeth Meister hat ihre Geschichte in einem Buch aufgeschrieben, das gerade erschienen ist. «Amputierte Mutter» heisst es, «Die Geschichte einer Zwangsadoption».

Das Buch «Amputierte Mutter»

Mit 17 Jahren Mutter – ein Skandal in der Schweiz der 1960er-Jahre. Der Druck von Behörden und Familie auf Elisabeth Meister wurde so gross, dass sie ihr Baby zur Adoption freigab. In «Amputierte Mutter» erzählt Elisabeth Meister die Geschichte dieser Zwangsadoption.

Elisabeth Meister, «Amputierte Mutter», Cosmos 2025

Mit 17 Jahren Mutter – ein Skandal in der Schweiz der 1960er-Jahre. Der Druck von Behörden und Familie auf Elisabeth Meister wurde so gross, dass sie ihr Baby zur Adoption freigab. In «Amputierte Mutter» erzählt Elisabeth Meister die Geschichte dieser Zwangsadoption.

Elisabeth Meister, «Amputierte Mutter», Cosmos 2025

Denn Elisabeth Meister findet: «Die Scham sollte die Seite wechseln.» Ein Satz, den auch Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot vergangenes Jahr im Gerichtsprozess gegen ihren Mann und dessen zahlreiche Mittäter sagte. Nicht die Opfer sollten sich schämen, sondern die Täter. Im Fall von Elisabeth Meister: all die Beamten und beflissenen Helferinnen, die auf sie einwirkten, ihr Kind aufzugeben.

Elisabeth Meister im April 2025 beim Gespräch im Botanischen Garten in Bern.
Foto: Stefan Bohrer

Bei einem Treffen im Botanischen Garten in Bern erzählt Elisabeth Meister, dass sie fast 15 Jahre am Buch geschrieben habe. Die Arbeit daran immer wieder für längere Zeit unterbrach. «Beim Schreiben stiess ich auf Sachen, die schmerzhaft sind und bei denen ich mich schämte.» Als sich in ihr das Bild festigte, beispielsweise, dass sie als Schwangere und junge Mutter oft «den Weg des geringsten Widerstands» gegangen, nicht standfest war, nicht um ihr Kind gekämpft hatte. Gewidmet ist ihr Buch ihren Enkelkindern und ihren drei Töchtern – auch der ältesten, Michelle. 

Die gesellschaftliche Norm

Bis in die 1980er-Jahre war es üblich, dass der Staat in das Leben von Menschen eingriff, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Ehemalige Verdingkinder und andere Betroffene, die als Kind fremdplatziert wurden, haben ihre Geschichten öffentlich erzählt. Doch Elisabeth Meister ist noch keiner anderen «freigebenden Mutter», wie diese amtlich hiessen, begegnet, die ihr Schicksal teilt. «Das Schamgefühl hindert uns, zu reden», sagt sie. «Wir ducken uns weg.»

Gefallenes Mädchen. Gefährdete Tochter. Liederlich. Verdorben. Mannstoll. Die Zuschreibungen haben sich in ihr verankert. Als sie vor elf Jahren unter Tränen ihre eigene Akte erstmals las, all die amtlichen Stempel sah, die jegliches Mitgefühl, jegliche Menschlichkeit überdeckten, da fühlte sie erstmals Wut. «Ich erkannte, dass ich meine Rolle in meiner Erinnerung nicht beschönigt hatte. Dass der Druck wirklich so gross war. Sämtliche Involvierte drängten mich von Beginn weg, auf meine Tochter zu verzichten.» Ob zu Hause oder auf den Ämtern, isoliert in der Fremde oder im Spital nach der Geburt: Überall legte man ihr Adoption als einzige Lösung nahe.

Ein Café-Besucher am Zürcher Limmatquai 1967. Männer hatten in der Gesellschaft das Sagen, Frauen noch kein Stimmrecht.
Foto: Keystone

Trotzdem gab die mittlerweile 17-jährige Elisabeth ihre Tochter Michelle nach der Geburt nicht sofort zur Adoption frei. Die Frau «hinter den sieben Bergen», für die sie während der Schwangerschaft gearbeitet hatte, nahm das Baby auf. Elisabeth konnte es sehen, wusste aber nicht viel mit ihm anzufangen. «Die Muttergefühle waren mir von der ersten Besprechung auf dem Jugendamt an wegamputiert worden», sagt sie.

Als Michelle zweieinhalb Jahre alt war, stimmte Elisabeth einer Adoption zu. «Sie hatten mir ausgeredet, dass ich je eine gute Mutter sein könnte. Sie sagten, es sei für das Wohl des Kindes das Beste, die Verzichtserklärung zu unterschreiben.» Die Frau, die Michelle adoptieren wollte, war Elisabeth Meister flüchtig bekannt. Das war gegen die Regeln, aber tröstlich.

Ihre Geschichte hat ein Happy End

In der Westschweiz erfand sich Elisabeth Meister neu. Sie war glücklich als Werbetexterin, fand Liebe – und verlor den Mann, mit dem sie eine Familie gründen wollte, als sie ihm ihre Geschichte anvertraute. Später gebar sie in kurzer Folge zwei Mädchen – und ihre Befürchtungen, erneut keine Muttergefühle entwickeln zu können, erwiesen sich als unbegründet. 

Die Ehe ging nach einigen Jahren auseinander. «Plötzlich war ich alleinerziehende Mutter. Das war die Rolle meines Lebens», sagt Elisabeth Meister. Hingebungsvoll, aufopfernd, überfürsorglich. Sie holte nach, was ihr früher verwehrt gewesen war. 

In der Rolle ihres Lebens fühlte sich Elisabeth Meister, als sie ihre jüngeren Töchter als alleinerziehende Mutter umsorgte.
Foto: Stefan Bohrer

Heute sind ihre Töchter erwachsen, und sie lebt mit ihrem zweiten Mann in Frankreich, einen Steinwurf von Genf entfernt. Die traumatische Geschichte rund um ihr frühes Mutterwerden hat ein unübliches Happy End: Elisabeth Meister hatte gerade ihre dritte Tochter bekommen, da meldete sich Michelle, mittlerweile 18-jährig.

Die zwei Frauen haben über die Jahre eine enge Beziehung geknüpft. Von den Schuldgefühlen ihrer biologischen Mutter wollte Michelle nichts wissen. Und Elisabeth als Familienangehörige sehen, das wollte sie auch nicht. Eine Freundin sei sie, sagte sie einmal. «Das schmerzte», erinnert sich Elisabeth Meister. Aber sie versteht sie.

Es fällt Elisabeth Meister nicht leicht, ihre Geschichte, die sie so lang geheim gehalten hat, vor Publikum an einer Lesung, vor der Kamera oder in ein Mikrofon zu erzählen. Doch es geht ihr nicht nur um sich selbst. Ihr Buch schliesst sie mit diesen Sätzen: «Jetzt müssen wir dem Schicksal etwas Wind aus den Segeln nehmen, damit sich solche Dramen nicht wiederholen. Darum auch dieses Buch. Es soll nichts ungesagt bleiben, damit die unterschwelligen Kräfte kein Unheil mehr anrichten können. Das Gift soll nicht länger wirken.»

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.
Jetzt im Blick Live Quiz abräumen

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?