Darum gehts
Die Packungsbeilage gleich vorweg: Alle Angaben über den 19- bis 28-Punkte-Plan, der den Krieg in der Ukraine beenden soll, sind mit grösster Vorsicht zu geniessen. Das Dokument, das vergangene Woche auftauchte, ist mehrfach überarbeitet worden. Noch diese Woche wollen Donald Trump (79) und Wolodimir Selenski (47) bei einem Treffen in den USA weiter daran feilen.
Den ursprünglichen Entwurf haben Putins Sondergesandter Kirill Dmitrijew (60) und Trumps Vertrauter Steve Witkoff (68) im Oktober in Miami ausgearbeitet. Ein Blick ins Papier verrät uns eines: Moskau ist zu Kompromissen bereit, die noch vor wenigen Monaten undenkbar schienen. Dass Wladimir Putin (73) den Plan als «mögliche Basis für eine Lösung des Konflikts» erachtet, lässt aufhorchen. Blick zeigt, bei welchen Punkten der Kreml einlenken könnte – und warum er das gerade jetzt tut.
Armeegrösse
Der 28-Punkte-Plan erlaubt der Ukraine, bis zu 600'000 Soldaten in ihrem Heer zu haben. Noch vor dreieinhalb Jahren wollte Russland bei den Verhandlungen in Istanbul die ukrainischen Streitkräfte auf 85'000 Soldaten reduzieren. Laut dem britischen Historiker und Russland-Experten Mark Galeotti (60) ist es ohnehin schwer vorstellbar, dass die Ukraine in Friedenszeiten mehr als 500'000 Soldaten in ihrer Armee unterhalten könnte.
Nato
2021 verlangte Putin, dass sich die Nato ganz aus Osteuropa zurückziehen soll und ehemalige Sowjetstaaten wie das baltische Trio Estland, Lettland und Litauen (heute alles Nato-Mitglieder) nicht mit dem Militärbündnis paktieren dürften. (Randnotiz: Natürlich hat Putin weder 2021 noch heute irgendeinem souveränen Staat vorzuschreiben, welchen Bündnissen er beitritt.) Der neue Plan fordert keinen Nato-Rückzug mehr aus Osteuropa, sondern einzig das Ende der ukrainischen Nato-Beitrittsgespräche.
EU
2014 gingen in der Ukraine Hunderttausende auf die Strasse, um gegen den pro-russischen Kurs der Regierung zu protestieren. Moskau orchestrierte damals hinter den Kulissen das Aus für das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das Kiew eng mit Brüssel vernetzt hätte. Laut dem neuen Plan aber wehrt sich der Kreml nicht länger gegen einen ukrainischen EU-Beitritt.
Entführte Kinder
Russland hat seit Kriegsbeginn weit über 20'000 Kinder aus den besetzten ukrainischen Gebieten entführt. Für dieses Verbrechen sind Putin und seine Kinderrechtszuständige Maria Lwowa-Belowa (41) international zur Verhaftung ausgeschrieben. Laut dem Plan sollen alle «zivilen Gefangenen und Geiseln», inklusive der Kinder, in die Ukraine zurückgebracht werden. Ob damit auch die bereits von russischen Familien zwangsadoptierten ukrainischen Kinder gemeint sind, bleibt offen.
Eingefrorene Vermögen
100 Milliarden Dollar der eingefrorenen russischen Vermögen sollen für den Wiederaufbau in der Ukraine verwendet werden – sofern Europa sich bereit erklärt, weitere 100 Milliarden aus den eigenen Finanztöpfen einzuschiessen, und sofern der Rest der eingefrorenen Vermögen wieder freigegeben wird. Russland soll den Wiederaufbau des zerstörten Landes also mindestens mitfinanzieren.
Atomkraftwerk Saporischschja
Russische Truppen halten das grösste Atomkraftwerk Europas seit Jahren besetzt. Unter dem neuen Pakt sollen die sechs Reaktoren von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) verwaltet und die produzierte Energie je zur Hälfte den Russen und den Ukrainern zukommen. Russland wäre also bereit, ein mit Gewalt erobertes Ziel mindestens in Teilen zurückzugeben.
Sicherheitsgarantien
Konkret ausformuliert sind die Sicherheitsgarantien, die die Ukraine erhalten soll, zwar nicht. Zudem ist das Wort in der Ukraine seit der Unterzeichnung des Budapester Memorandums 1994 sowieso Gift. Russland-Kenner Mark Galeotti schreibt in der «Sunday Times» aber, dass die von den USA vorgeschlagenen militärischen Garantien für die Ukraine fast denselben Schutz böten wie ein Nato-Beitritt.
Ukrainische Souveränität
Moskau spricht der Ukraine teils heute noch ihre Souveränität ab. Putin etwa bezeichnete das Nachbarland mehrfach als «künstlichen Staat» und als «russisches Gebiet». Laut dem neuen Plan würde Moskau allerdings mindestens den ukrainischen Rumpfstaat als souverän anerkennen.
Sanna Marins Ein-Punkte-Plan
Fragt sich, warum sich das Regime in Moskau mindestens in diesen Punkten gesprächsbereit zeigt. Die Antwort: Putin kann sich seinen Krieg höchstwahrscheinlich nicht mehr ewig leisten. Die neuen Sanktionen gegen die beiden grössten russischen Ölproduzenten Rosneft und Lukoil schmerzen. Die Wirtschaft stagniert.
Ob Kiew überhaupt etwas auf das russische Wort geben sollte, bleibt bei all dem zweifelhaft. Putin belügt die Welt und sein Volk tagtäglich aufs Neue: Offiziell führt Russland nicht einmal Krieg. Und aus europäischer Sicht bleibts dabei: Wirklich «gut» wäre einzig der Ein-Punkte-Plan, den die ehemalige finnische Regierungschefin Sanna Marin (40) einst vorschlug: Russland zieht sich sofort aus der Ukraine zurück und bleibt hinter ihren Grenzen. Punkt.