Darum gehts
Seit bald vier Jahren wehrt sich die Ukraine gegen die russischen Angreifer, seit Monaten herrscht entlang der Front blutiger Stillstand. Jetzt aber könnte in der Ukraine plötzlich alles schnell gehen. Bis am Donnerstag will US-Präsident Donald Trump (79) eine Unterschrift unter dem neuen 28-Punkte-Plan.
Am Sonntag berieten Vertreter aus den USA, Europa und der Ukraine in Genf über den Entwurf. Trump verlangt von der Ukraine unter anderem die Aufgabe von Gebieten, die die Russen noch gar nicht erobert haben. Unterzeichnet Präsident Wolodimir Selenski (47) das Dokument, unterzeichnet er faktisch auch die Kapitulation der Ukraine. Tut er es nicht, droht Trump damit, die Militärhilfe an Kiew einzustellen. Blick hat bei Experten nachgefragt, was das zur Folge hätte. Drei Szenarien scheinen wahrscheinlich. Im Schlimmsten davon verliert die Ukraine den Krieg noch vor Weihnachten.
Der beste Fall: Europa rückt zusammen
Marcel Berni (37), Strategie-Experte an der Militärakademie an der ETH Zürich, sagt, Europa könnte im besten Fall einen Teil der Lücke füllen, die durch den amerikanischen Rückzug entstünde. Die Front bliebe stabil, die Ukraine könnte das Vorrücken der Russen verzögern und ihre eigene Waffenproduktion herauffahren. Heute schon produziert die Ukraine laut eigenen Angaben fast 60 Prozent ihrer Waffen selbst. Zum Vergleich: Zu Beginn des russischen Angriffskrieges 2022 waren es weniger als zehn Prozent.
«Weitere ukrainische Angriffe in die Tiefe – etwa auf Öl-Raffinerien oder Waffenfabriken – könnten in Moskau zu einem Umdenken führen», sagt Berni. Diese «Best case»-Variante sieht auch Klemens Fischer (61), Geopolitik-Professor an der Uni Köln und Herausgeber des neuen Buches «European Security Put to the Test» (Nomos Verlag). «In diesem Szenario kommt der Konflikt zu einem vorläufigen Stillstand.»
Eine massive europäische Aufrüstungskampagne könnte die Russen weiter abschrecken. «Ein Kalter Krieg 2.0 setzt ein, beide Seiten akzeptieren das neue Gleichgewicht», sagt Fischer. Ein baldiges Ende des Krieges sehen beide Experten allerdings nicht einmal im besten Fall kommen.
Der Mittelweg: Das Ende rückt in weite Ferne
Im zweiten Szenario schaffen es die Ukraine und ihre europäischen Partner auch ohne Amerikaner, die Russen an der Erreichung ihrer Kriegsziele (Integration des gesamten Donbass sowie der Regionen Saporischschja, Kherson und der Krim in die Russische Föderation; Sturz der Selenski-Regierung) zu hindern. Die Aufrüstungsbemühungen reichen aber nicht aus, um Moskau ausreichend abzuschrecken.
Rhetorisch macht Europa zwar vorwärts. Frankreich will 100 Rafale-Kampfjets an die Ukraine liefern, die deutsche Regierung mahnt mit erhobenem Finger, Polen droht mit dem Abschuss russischer Kampfjets und die EU hat 150 Milliarden Euro für die gemeinsame Beschaffung von Waffen gesprochen, die grösstenteils an die Ukraine weitergegeben werden sollen.
Das reicht aber nicht, um Wladimir Putin (73) wirklich einzuschüchtern. Er lässt seine Truppen weiter anstürmen. Die Ukraine setzt weiter alles daran, auf dem Schlachtfeld dagegenzuhalten. Der Krieg geht auf unbestimmte Zeit weiter.
Der schlimmste Fall: Die Ukraine verliert vor Weihnachten
Im schlimmsten Fall stünde der amerikanische Rückzug am Beginn einer tödlichen Abwärtsspirale für die Ukraine. Massiver Munitionsmangel, der Ausfall grosser Teile der Luftverteidigung, steigende zivile Opferzahlen, vermehrte russische Geländegewinne: Der ukrainische Überlebenskampf verkäme zu einem letzten Ansturm gegen den sicheren Untergang. Yuriy Romanenko, ein ukrainischer Politikwissenschaftler, rechnet vor, dass die Ukraine in diesem Fall den Widerstand aufgrund der dünnen Personaldecke für maximal vier Monate aufrechterhalten könnte.
Marcel Berni sagt: «Der Verlust der geheimdienstlichen Informationen und der wegfallende Zugriff auf amerikanische Lagebilder würde wohl am schwersten ins Gewicht fallen. Es wäre, wie wenn der Coach in einem Boxkampf dem ohnehin bereits geschwächten ukrainischen Kämpfer ein Auge verbinden würde: Der Kämpfer kann zwar weiterkämpfen, aber er sieht die gegnerischen Schläge erst viel später kommen und kann selbst weniger gezielte Treffer austeilen.»
Geopolitik-Professor Klemens Fischer befürchtet für diesen Fall ein «relativ ungehindertes Vorrücken» russischer Truppen. Je nachdem, ob Russland auf ganzer Front angreifen oder sich auf zwei bis drei Schwerpunkte konzentrieren würde, wäre die ukrainische Verteidigung rasch am Anschlag. «Im schlimmsten Fall könnte ein operativer Durchbruch noch vor Weihnachten erfolgen», warnt Fischer. Heisst konkret: Russische Truppen marschieren durch – im Extremfall erneut bis nach Kiew.