Darum gehts
- Pokrowsk in Gefahr: Russische Truppen dringen in die Stadt ein
- Strategisch wichtiger Standort für Versorgung und Logistik der ukrainischen Armee
- Einst 60'000 Einwohner, jetzt verwaist und von Soldaten patrouilliert
Seit über einem Jahr kämpft die ukrainische Armee um Pokrowsk. Die Lage wird von Tag zu Tag schlimmer. Vielen ist mittlerweile klar: Lange wird die Stadt, in der einst 60'000 Menschen lebten, nicht mehr durchhalten. Pokrowsk wirkt inzwischen wie ausgestorben. Wo einst Restaurants und internationale Cafés die Strassen säumten, patrouillieren jetzt Soldaten.
Ein Post des ukrainischen Parlamentariers Oleksij Hontscharenko verdeutlicht die dramatische Lage. In der Nacht auf Dienstag schrieb er auf Telegram: «Wir verlieren Pokrowsk. Die Russen sind in die Stadt eingedrungen.» Militärblogger rechnen inzwischen mit 300 bis 500 russischen Soldaten vor Ort.
«Es wäre ein Dammbruch»
Was würde ein Fall von Pokrowsk bedeuten? «Wenn die Stadt eingenommen wird, sieht es für die Ukraine düster aus», sagt Klemens Fischer (61) zu Blick. Der Geopolitik-Experte der Kölner Universität skizziert, was das für die Fortsetzung des Ukraine-Kriegs bedeuten würde. «Der Fall von Pokrowsk wäre wie ein Dammbruch. Die Russen könnten das Gebiet so weiter nach Westen bis zum Fluss Dnepr erobern.» Diese Operation würde aber nicht schnell voranschreiten, sondern in langsamem Tempo.
Der ukrainische «Festungsgürtel» stünde im Fokus – namentlich die Städte Slawjansk und Kramatorsk und Druschkowka weiter im Süden. Sogar Saporischschja liegt im Bereich des Erreichbaren. Laut Fischer durchaus realistisch. «Wenn es so weitergeht, könnten die russischen Truppen bis Weihnachten auf breiterer Front vorrücken.»
Die Folgen wären weitreichend: «Die westeuropäischen Staaten müssten sich auf eine grosse Flüchtlingswelle mit Millionen von Geflüchteten einstellen.» In einem solchen Fall, so der Experte, hätte die Ukraine den Krieg militärisch faktisch verloren.
Darum ist Pokrowsk so wichtig
Fischer weiter: «Die Einnahme der Stadt wäre ein grosser Sieg für Russland, denn die Symbolkraft ist enorm, nachdem aus Kiew stets verlautete, dass diese Festung nicht fallen wird», betont der Österreicher, der früher als Diplomat tätig war. Die Stadt könnte den Russen vor allem auch als Winterquartier für die Streitkräfte dienen.
Hinzu kommt: Pokrowsk liegt auf dem Versorgungsweg für die ukrainische Armee und gilt als wichtiges logistisches Zentrum. Um sich zu verteidigen, ist der Standort also eminent wichtig. Zudem beherbergt die Donbass-Stadt eine Kokerei, die für die Produktion von Stahl unverzichtbar ist.
Die Region Donezk war schon Schauplatz einiger, blutiger Schlachten. Im September 2022 beanspruchte Russland die Kontrolle über Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja und erklärte sie einseitig für annektiert.
Selenski gab sich immer kämpferisch
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (47) zeigte sich in den vergangenen Wochen immer wieder kämpferisch in Bezug auf Pokrowsk. Berichte, dass die Stadt umzingelt ist, wurde zuletzt immer wieder zurückgewiesen. Eine Niederlage würde laut Fischer gerade deshalb so katastrophal für die Moral der Ukraine sein, da man der Führung um Selenski kaum mehr glauben würde.
Um die Stadt zu verteidigen, wurde die Spezialeinheit «Timur» in die Region geschickt. Laut Fischer nicht unbedingt ein kluger Schachzug: «Die letzte, übrige Spezialeinheit wurde geschickt. Die Ukraine hat jetzt keine starke Verteidigung mehr.»
Er ergänzt: «Derartige Eliteeinheiten wurden bereits in Mariupol und in Kursk gleichsam geopfert, ohne dass das Kriegsgeschehen auf Dauer zugunsten der Ukraine verändert werden konnte. Derartige Truppen werden in den kommenden Wochen an den nächsten Brennpunkten fehlen.»
«Es wird nicht zum endgültigen Zusammenbruch führen»
Der russische Ultranationalist Igor Girkin (54), der 2014 den Krieg im Donbass angezettelt hatte, sieht es nicht ganz so dramatisch wie Fischer. Er sitzt seit zwei Jahren hinter Gittern, weil er Putin immer wieder hart kritisiert hat – nicht für die Invasion der Ukraine, sondern dafür, dass er dabei zu wenig erfolgreich ist. Aus seiner Zelle lässt Girkin verlauten, der taktische Erfolg in Pokrowsk werde bestimmt als «entscheidender Sieg» präsentiert werden.
Doch das sei Humbug, im Grunde ändere sich nichts, selbst wenn die russische Armee noch weitere 50 oder 100 Kilometer vordringen würde: «Es wird nicht zum endgültigen Zusammenbruch der Front der ukrainischen Streitkräfte führen.» Der Brite Shaun Pinner (51), Ex-Soldat der Ukraine und ehemaliger Kriegsgefangener der Russen, analysiert die Schlacht so: «Pokrowsk ist ein Ort, an dem Russland das Gefühl hat, gewinnen zu müssen, und an dem die ukrainische Armee den Gegner teuer dafür bezahlen lässt, es zu versuchen.»
600'000 versus 200'000 Soldaten
Trotz der jüngsten Erfolge steht aber auch Russland unter Druck. Die Offensive verschlingt enorme Ressourcen, und die Verluste an Material und Personal sind hoch. Aus Sicht des Kremls wäre ein Nachlassen der Truppen aber gefährlich. Denn: «Jede Verzögerung kostet Kraft – und öffnet der Ukraine Chancen zur Stabilisierung.»
Dennoch: Der russischen Armee mit rund 600'000 Frontsoldaten stehen gerade noch ungefähr 200'000 ukrainische Verteidiger auf 1200 Kilometern Frontlänge gegenüber. Für Fischer ein weiteres Indiz, dass eine militärische Entscheidung näher rückt.