Darum gehts
- Russische Truppen dringen in Pokrowsk ein, Ukraine kämpft um Kontrolle
- Chaos herrscht in der Stadt, ukrainische Drohnenpiloten können nicht operieren
- Vor russischer Invasion lebten 60'000 Menschen in der Bergbaustadt Pokrowsk
Die Darstellungen widersprechen einander: Kremlchef Wladimir Putin (73) behauptete schon letzte Woche, die Truppen des Gegners bei Pokrowsk im Donbass seien eingekesselt. Die Ukraine dementierte. Präsident Wolodimir Selenski (47) und Armeechef Olexander Sirski (60) reisten medienwirksam an die Front. Ihre Botschaft: Die Lage sei zwar schwierig, aber weiter unter Kontrolle.
Fällt die Bergbaustadt, in der vor der russischen Invasion 60’000 Menschen lebten, wäre dies für Putin der grösste Propagandaerfolg seit der Eroberung von Bachmut im Mai 2023. Pokrowsk einzunehmen, hatte der Kremlchef schon lange als Ziel ausgegeben. Bereits im letzten Sommer machte das Gerücht die Runde, es sei jeden Moment so weit. Doch die Ukraine konnte die Lage stabilisieren.
In der Stadt herrscht Chaos
Ob das erneut gelingt? Jetzt ist die Situation wirklich brenzlig. Das berichten mittlerweile auch ukrainische Medien. Fast im gesamten Stadtgebiet gebe es mittlerweile russische Soldaten, berichtet eine Reporterin des Nachrichtenportals Hromadske, die dort mit ukrainischen Offizieren gesprochen hat. Es herrsche Chaos. Niemand wisse mehr, wo der Feind sei und wo die eigenen Leute. Die Lage sei so gefährlich, dass Drohnenpiloten nicht mehr aus der Stadt heraus operieren könnten.
Die Folge: Es gelingt nicht mehr wie früher, russische Soldaten auszuschalten, bevor sie in die Stadt eindringen. Nun tobt der Häuserkampf. Selenski hat eingeräumt, dass sich bereits mehr als 300 russische Soldaten in Pokrowsk befinden. Und in der Ukraine läuft wieder die gleiche Diskussion wie vor dem Fall von Bachmut: Sollen sich die eigenen Truppen zurückziehen? Sollen sie weiter Widerstand leisten? Ist ein Rückzug überhaupt noch möglich oder hat man schon zu lange zugewartet? Soll die Ukraine Land opfern oder Leben?
«Wir haben in Pokrowsk einen guten Job gemacht»
Der ukrainische Soldat und Drohnenpilot Dimko Zhluktenko (27) hält sich rund 30 Kilometer von Pokrowsk entfernt auf, bei Dobropillia, wo seine Landsleute erfolgreich in die Gegenoffensive gegangen sind. Er macht sich keine Illusionen: «Wir haben bei der Verteidigung von Pokrowsk unsere Grenzen erreicht», sagt er zu Blick. Es sei pure Mathematik: Mit ihren Sturmangriffen habe die russische Armee getestet, wie viele Männer es brauche, um die ukrainische Abwehr zu überfordern. «Die Russen werfen nun in Pokrowsk so viele Kräfte in den Kampf, dass wir sie nicht mehr stoppen können.» Dass Pokrowsk bald fallen dürfte, nimmt Zhluktenko relativ gelassen. Rückzüge und Niederlagen gehörten nun mal zum Krieg. Und: «Unser Ziel ist, möglichst viele russische Soldaten zu töten. Das haben wir getan – während über einem Jahr. Wir haben in Pokrowsk einen guten Job gemacht.»
Kein «entscheidender Sieg»
Von strategischer Bedeutung sei der Verlust der Stadt nicht. «Westlich von Pokrowsk haben wir gute Verteidigungslinien erstellt.» Und überhaupt: Solange Kiew, Dnipro und Odessa nicht erobert seien, bestehe die unabhängige Ukraine weiter.
Der russische Ultranationalist Igor Girkin (54), der 2014 den Krieg im Donbass angezettelt hatte, sitzt seit zwei Jahren hinter Gittern, weil er Putin immer wieder hart kritisiert hat – nicht für die Invasion der Ukraine, sondern dafür, dass er dabei zu wenig erfolgreich ist. Aus seiner Zelle lässt Girkin verlauten, der taktische Erfolg in Pokrowsk werde bestimmt als «entscheidender Sieg» präsentiert werden.
Doch das sei Humbug, im Grunde ändere sich nichts, selbst wenn die russische Armee noch weitere 50 oder 100 Kilometer vordringen würde: «Es wird nicht zum endgültigen Zusammenbruch der Front der ukrainischen Streitkräfte führen.» Der Brite Shaun Pinner (51), Ex-Soldat der Ukraine und ehemaliger Kriegsgefangener der Russen, analysiert die Schlacht so: «Pokrowsk ist ein Ort, an dem Russland das Gefühl hat, gewinnen zu müssen, und an dem die ukrainische Armee den Gegner teuer dafür bezahlen lässt, es zu versuchen.»