Darum gehts
Was bei der studentischen Jugend en vogue ist, war bei Regierungschefs bis vor kurzem verpönt: Offene Kritik an Israel leisteten sich nur arabische Herrscher und lateinamerikanische Revoluzzer. Nicht aber die Damen und Herren in Europas Demokratie-Palästen.
Schon ganz und gar nicht die politische Führung in Berlin. Verständlich: Die Nazi-Verbrechen haben das jüdische Volk überhaupt erst in die Situation gebracht, sich jetzt gegen Hamas-Terroristen und iranische Mullahs zur Wehr setzen zu müssen. So gesehen ist das, was Friedrich Merz (69) Anfang Woche wagte, ein Schock.
«Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu ziehen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen», sagte der deutsche Kanzler an der Digitalkonferenz Republica. So offen hat noch kein Berliner Regierungschef Israel kritisiert.
Europa will Beziehungen zu Israel überprüfen
Noch im Wahlkampf Anfang Jahr sprach Merz davon, einen Weg zu finden, den israelischen Premier Benjamin Netanyahu (75) trotz des bestehenden internationalen Haftbefehls nach Deutschland einzuladen. Jetzt diese Kehrtwende: Was scheinbar ewig währen sollte, geht in die Brüche wie die alttestamentarischen Mauern von Jericho unter dem Trompetengedröhn der Israeliten.
Der CDU-Kanzler reiht sich mit seiner Kritik ein in eine wachsende Schar von Spitzenpolitikern, die Netanyahu klare Kante geben. US-Präsident Donald Trump (78) hatte auf seiner viertägigen Nahostreise einen Bogen um Israel gemacht. Am Wochenende soll es laut dem israelischen Sender Channel 12 zudem hitzig zu- und hergegangen sein, als Netanyahu und Trump zum Thema Iran miteinander telefonierten.
Noch deutlicher als die USA hat sich die EU positioniert. 17 von 27 Mitgliedstaaten stimmten jüngst dafür, sämtliche politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem jüdischen Staat zu überprüfen. Konkret, weil nicht mehr klar sei, ob Israel angesichts der grausamen Lage in Gaza weiter an der Einhaltung der Menschenrechte interessiert sei.
Die Uno warnte vergangene Woche, dass mindestens 14'000 Babys in Gaza unmittelbar vom Hungertod bedroht seien. Die zögerlichen Hilfslieferungen, die Israel nach der fast zweimonatigen Totalblockade des palästinensischen Küstenstreifens wieder zuliess, seien «nichts als ein Tropfen auf den heissen Stein», beklagte die EU-Spitzendiplomatin Kaja Kallas (47).
Israels Schweiz-Botschafterin ist «entsetzt»
Frankreich und Kanada drohen Israel Sanktionen an, falls der Angriff auf Gaza nicht aufhört. Grossbritannien hat bereits erste Sanktionen in Kraft gesetzt und die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Israel sistiert. Mindestens 53'000 Menschen sind bei den israelischen Attacken bereits getötet worden: Hamas-Terroristen, aber auch zahlreiche Unschuldige.
Netanyahu steht im brutalen Gegenwind. Er weiss: Ohne die jährlich 3,8 Milliarden Dollar Militärhilfe aus den USA sieht es schnell zappenduster aus. Falls Europa Wirtschaftssanktionen erheben sollte, könnte das die israelische Hightechbranche empfindlich treffen. Der Tourismus ist sowieso komplett weggefallen.
Netanyahus Botschafterin in der Schweiz zeigt sich auf X «entsetzt» über Kritik von Schweizer Politikern am Vorgehen Israels in Gaza. Das sei «ein notwendiger Kampf gegen eine mörderische Terrororganisation», schreibt Botschafterin Ifat Reshef. Das stimmt im Kern. Dass Israel dabei «versucht, die Zivilisten in Gaza zu schützen», ist eine Farce. Anderthalb Jahre lang hat sich Israel unter diesem Deckmantel über das politische Parkett geschlängelt. Jetzt droht das Land heftig auszurutschen.