Darum gehts
Es ist eine wahrhaft wundersame Verwandlung: Die alten Netze von Fischer Claude Delley (62) brachten den Fischen im Neuenburgersee einst den Tod. Bald retten sie an der Ukraine-Kriegsfront Leben. Und alles dank des unermüdlichen Einsatzes von Franck Labourey (65), eines Freiburger Kaminfegers, der beim Fernsehschauen auf eine Wahnsinnsidee kam und jetzt mit Schweizer Fischernetzen die Wende im Ukraine-Krieg einleiten will.
Die Geschichte geht so: Es waren die Pferde, die Franck Labourey 2010 in die Ukraine brachten. Mehrere Oligarchen hatten ihn angestellt, um in Kiews Vororten ihre Tiere zu dressieren. «Ich liebe Pferde, aber die Menschen in dieser Szene mag ich gar nicht», erzählt Labourey in schnellem Französisch. Er steht auf einem kleinen Steg in Portalban am Neuenburgersee. Neben ihm stapeln sich alte Fischernetze in Plastikkisten: neuer Stoff für seine nächste Mission, die ihn in zwei Wochen zum 46. Mal seit Kriegsausbruch in die Ukraine führen wird.
Hühnerhofprinzip an der Ukraine-Front
«Wir tun viel», sagt Labourey über sich und seine zahlreichen Helfer, die sich in Whatsapp-Gruppen organisieren: Wer kann wann wohin in die Ukraine fahren? Wo gibt es Hilfsgüter, mit denen wir unsere Lastwagen füllen können? Welche Einheit hat Bedarf? «Ich habe seit Kriegsausbruch keinen einzigen Tag freigemacht», sagt Labourey.
2014 hat er in Kiew die gewaltsam unterdrückten Proteste auf dem Maidan miterlebt. Seither lässt ihn das Schicksal der Ukraine nicht mehr los. Den Menschen in der Schweiz erklären, was da drüben wirklich abgeht, Farbe bekennen, einstehen für dieses Volk: Das ist ihm wichtig. Seinen Langarm-Trainer in den ukrainischen Nationalfarben zieht er sich während des dreistündigen Treffens trotz der fast 30 Grad nie aus. Ein bisschen Sommerhitze, was ist das schon angesichts der Probleme, mit denen die Welt zu kämpfen hat.
Eines der grössten Probleme der Ukraine sind derzeit russische Kamikazedrohnen: mit Sprengstoff bestückte Minikiller, die in Schwärmen über der Front kreisen und wie aus dem Nichts blitzschnell auf die ukrainischen Stellungen herunterkrachen. Störsender nützen nur bedingt. Tarnen kann man sich vor den häufig mit Wärmebildkameras ausgestatteten Drohnen auch nicht. «Mit Fischernetzen und Hagelschutznetzen aber können die Soldaten sich effektiv vor den Drohnen schützen», erzählt Labourey. Das Prinzip: ganz ähnlich, wie wenn Bauern ihre Freilaufhühner mit Netzen vor den kreisenden Milanen abschirmen.
Die Idee dazu kam ihm, als er im Fernsehen die gestapelten Netze im Hafen der französischen Atlantikstadt Les Sables-d’Olonne sah. Labourey rief einen Bekannten an, der in der Nähe lebt. «Dem schenkten sie am Hafen eine ganze Ladung alter Seezungennetze, die wir mit einem Lastwagen in die Ukraine brachten.» Anfänglich seien die Soldaten skeptisch gewesen. «Dann aber zeigte sich, dass das wirklich funktioniert.»
220 Tonnen Netze an die Front gekarrt
20 Tonnen Fischernetze und 200 Tonnen Hagelschutznetze mehrheitlich aus Frankreich und aus der Schweiz haben Labourey und seine Helfer seither schon in die Ukraine gekarrt und damit rund 30 verschiedene Einheiten beliefert. Nächste Woche trifft eine weitere Ladung von Schweizer Netzen bei der 3. Sturmbrigade an der Donbass-Front ein. «Wir sind immer auf der Suche nach Menschen wie Claude Delley hier», sagt Labourey und klopft seinem Bekannten auf die Schulter. «Wir brauchen mehr Netze. Sie retten Leben!»
Ausfuhrprobleme aus der Schweiz gibt es keine. Das Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigt, dass die Netze nicht dem sogenannten «Dual-Use»-Reglement unterliegen, das den Export von militärisch nutzbaren Objekten in Kriegsgebiete verbietet. «Probleme kriegen wir nur manchmal am polnischen Zoll. Die betrachten unsere Recyclingnetze als Abfall und machen uns manchmal Probleme, weil wir Müll hin und her verschieben würden. Lächerlich», schimpft Labourey.
Bilder aus den ukrainischen Frontgebieten zeigen, wie die Soldaten inzwischen ganze Strassenzüge und Waldabschnitte mit den Netzen überspannen. Es gibt Videos von Netzen, die heranrauschende Kamikazedrohnen und sogar kleine Bomben auffangen. Alte Fischernetze, auch solche aus der Schweiz, erschweren der vermeintlich zweitstärksten Armee der Welt ihre mörderische Mission.
Vergangene Woche hatte jemand aus Laboureys Helfergruppe einen neuen Einfall: metallene Austernsäcke! Die liessen sich doch auf Fahrzeuge montieren als eine Art Antidrohnenpolster. «Müssen wir ausprobieren», sagt der Freiburger Fischernetz-Fighter Franck Labourey. Recycling in extremis. Der Umwelt nützt das nichts. Vielleicht aber den Ukrainern.