Sie kennt Putins Propaganda-Apparat von innen: Gulnaz Partschefeld (43) hat bis 2006 als Sprecherin für das russische Staatsfernsehen gearbeitet. Heute lehrt sie russische Kulturgeschichte an der HSG. Ein Gespräch über Putins Pläne, den Moskauer Todeskult und die Butscha-Provokation der «Weltwoche».
Putin ist nicht zu den Gesprächen in Istanbul erschienen. Erstaunt Sie das?
Nein. Wir möchten, dass es vorwärtsgeht mit den Verhandlungen. Doch das Ganze ist nichts als eine fiese Falle, die Putin gestellt hat, eine Inszenierung. Er wird sich nicht mit Selenski treffen.
Mehr als 900'000 Russen sind im Krieg getötet oder verwundet worden. Wie rechtfertigt Putin das vor seinem Volk?
In Russland wird der Wert des menschlichen Lebens immer kleiner und kleiner gemacht. Die russisch-orthodoxe Kirche spricht im Auftrag des Kremls vom heiligen Krieg. Die Heroik des Todes fürs Vaterland wird von Putin und seinen Propagandisten leidenschaftlich beschworen. Was hat dein Leben für einen Sinn, wenn du nicht bereit bist, für das übergeordnete Grosse zu sterben?
Nach diesem Prinzip funktionieren Ameisenkolonien ...
... und die russische Gesellschaft in Putins Idealvorstellung. Das Sterben fürs Vaterland wird stark heroisiert. Bereits Kleinkinder veranstalten Kriegsparaden. Kindergärtler werden in Militäruniformen gekleidet und dazu angeleitet, als Spiel Verwundete zu versorgen. Der Krieg wird zum Spiel. Man versucht, die Menschen an den Tod zu gewöhnen.
Als Soldat zahlt sich das Sterben zumindest finanziell aus.
Das stimmt. Angehörige von Gefallenen erhalten eine Entschädigung von rund 150’000 Franken. Daraus ist ein lukratives Geschäftsmodell entstanden. Auch der Sold ist viel höher als das Durchschnittseinkommen. Entsprechend gross ist der Druck der Familien auf Männer im wehrfähigen Alter.
Es gibt zahlreiche Videos von russischen Soldaten, die sich an der Front selbst erschiessen. Wie erklären Sie sich das?
Russische Soldaten können nicht damit rechnen, evakuiert und versorgt zu werden. Es soll Anweisungen geben, Schwerverletzte und Tote auf dem Schlachtfeld zurückzulassen, weil ein «vermisster» Soldat für den Staat günstiger ist als ein «gefallener» Soldat. Ergeben ist für viele keine Option, also nimmt man sich das Leiden durch den Suizid.
Putin will siegen. Was bedeutet «Sieg» für ihn?
Er denkt langfristig. In Russland lässt er den Kult um den Diktator Josef Stalin neu aufleben, etwa durch die Umbenennung des Flughafens Wolgograd zu «Stalingrad». Stalin wird als der Gewinner des Zweiten Weltkriegs verehrt. Jegliche Erinnerungen an das totalitäre Regime werden eliminiert. Putin will genau dasselbe erreichen: dass sein Sieg über die Ukraine all die Opfer vergessen macht. Deshalb deutet er seinen Angriffskrieg als Fortführung von Stalins Kampf gegen die Nazis um.
Und das Volk frisst das?
Er führt den Krieg nach dem Lego-Prinzip: Alles, was in sein absurdes Nazi-Narrativ passt, flickt er hinein, den Rest lässt er weg.
Was müsste passieren, dass die russische Bevölkerung merkt, wie sehr sie hinters Licht geführt wird?
Ich sehe keine Möglichkeit, dass das passiert. Aber: Die Menschen in Russland haben grosse Angst davor, was mit ihnen passiert, wenn Russland den Krieg verliert. Es wäre ein wichtiger Schritt, der russischen Bevölkerung aufzuzeigen, welche Konsequenzen ein Schuldeingeständnis nach sich ziehen würde – ein realistisches Bild anstelle der Schreckensszenarien der Propaganda.
Putins Propaganda-Apparat verbreitet absurde Lügen, etwa über den koksenden Macron auf dem Weg in die Ukraine. Glauben die Russen diese plumpe Propaganda wirklich?
Oft geht es überhaupt nicht um die Inhalte. Wladimir Solowjow, einer der einflussreichsten Putin-Propagandisten, ist ein gutes Beispiel: Sein Ziel ist es, die Menschen zu Hause mit seiner TV-Sendung emotional massiv aufzuladen und sie am Ende zu erlösen, in dem er Spannung ablässt. Das Volk soll seine Aggressionen auf diese Weise abreagieren und ja nicht in politischem Protest zum Ausdruck bringen. Solowjow betreibt mit seiner Sendung eine Art Volkstherapie. Diese Woche hat er ein Kinderprojekt lanciert, das «politisches Bewusstsein von der Wiege an» fördern soll.
Im April hat die «Weltwoche» geschrieben, das Massaker von Butscha sei von den Ukrainern verübt worden. Verfängt Putins Propaganda auch in der Schweiz?
Offenkundig. Als Motiv wird oft Putin-Verehrung oder Geldgier herangezogen. Ich sehe hier eher den starken Wunsch, die in den Medien dargestellte Realität auszugleichen, und zwar als eine Art Rachefeldzug gegen all diese anderen Journalisten, die vermeintlich einseitig über den Krieg berichten. Bei diesem Ausbalancieren geht es aber selbst nicht um die Suche nach Wahrheit, sondern um den Kampf gegen die anderen Stimmen und den Kampf um die Aufmerksamkeit der Bürger. In diesem Kampf scheinen alle Mittel recht zu sein.