Kurz vor Rücktritt hatte Lecornu noch grosse Pläne
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Neue Methode der Machtteilung:Kurz vor Rücktritt hatte Lecornu noch grosse Pläne

Bis heute Abend will Macron Frankreich retten – er wird scheitern
«Frankreich ist unregierbar geworden»

Präsident Emmanuel Macron (47) will Frankreich aus der Krise führen – bis heute Abend. Doch mit einem Schnellschuss geht das nicht. Das einst so stolze Land ist unkontrollierbar geworden.
Publiziert: 14:43 Uhr
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Aktualisiert: 15:38 Uhr
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Premier Sébastien Lecornu (l.) mit Präsident Emmanuel Macron: Auch er hat kein Rezept gefunden, die zerstrittenen Parteien in Frankreichs Legislative auf einen gemeinsamen Sparkurs zu führen.
Foto: AFP
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Guido FelderAusland-Redaktor

Schulden, Randale und jetzt die grosse Regierungskrise: Die Fünfte Französische Republik steckt tief im Elend. Bis am Mittwochabend will Präsident Emmanuel Macron (47) eine Lösung auf den Tisch zaubern. Sie soll zeigen, wie das Land aus dem Tief herausfindet – und er seine Haut retten kann.

Doch einfach nur an der Oberfläche zu kratzen, bringt nichts. Die Probleme liegen tiefer. Das Land ist unregierbar geworden. 

Die jüngste Krise löste der Rücktritt von Premierminister Sébastien Lecornu (39) aus. Er schmiss seinen Job nach nur 26 Tagen hin – noch bevor seine frisch gebildete Regierung ihre Arbeit aufnehmen konnte. Lecornu war der fünfte Premier in nur drei Jahren.

Das System stösst an seine Grenzen

Frankreich ist Krisen gewohnt. Was diesmal anders ist: Die Krise ist sowohl konjunkturell als auch strukturell. Frankreich-Experte Gilbert Casasus sagt zu Blick: «Zum ersten Mal seit der 1958 durch General de Gaulle erfolgten Gründung der Fünften Republik stösst das verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Konstrukt an seine Grenzen.»

Die Fünfte Französische Republik beruht auf zwei Säulen: einem starken, vom Volk direkt gewählten Präsidenten und einer politischen Parlamentsmehrheit. Es ist ein Doppelgespann, das bisher recht gut funktionierte.

Das Problem: Spätestens seit der misslungenen Auflösung des Parlaments im Jahr 2024 verfügt Macron über keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung. Und es kommt noch schlimmer: «Es gibt überhaupt keine Mehrheit mehr im Parlament. Frankreich ist unregierbar geworden», sagt Casasus.

Probleme kommen zusammen

Das instabile Konstrukt wird geschwächt durch die aktuelle Weltlage, das geringe Wirtschaftswachstum, die hohen Sozialausgaben, Probleme bei der Immigration und die massive Verschuldung. Die Staatsverschuldung ist auf 3,07 Billionen Franken gestiegen. Frankreich ist eines der unproduktivsten Länder Europas. Nirgendwo anders arbeiten die Menschen mit 35 Stunden pro Woche so wenig.

Ohne eine mutige Staatsreform wird Frankreichs Politik schwerfällig bleiben wie ein alter Tanker. Um die Probleme nachhaltig zu lösen, müssten sich die Franzosen von der Fünften Republik verabschieden. Casasus ist überzeugt: «Die Zeit ist reif für eine Sechste Republik!»

In diesen Bereichen braucht es grundlegende Reformen:

Änderung im Politsystem: Die einen plädieren für ein Präsidialsystem mit einem allein regierenden Präsidenten, die anderen wünschen sich mehr Machtbefugnisse für das Parlament. Möglich wäre auch die Abschaffung des überflüssig erscheinenden Postens des Premierministers.

Mehr Leistung: Frankreich braucht eine wirtschaftliche Rosskur. Die Arbeitsleistung muss angehoben und die Steuern müssen gesenkt werden.

Verschlankung des Staats: Frankreich ist ein zentralisierter, bürokratischer Staat mit rund 5,6 Millionen Beamten. Um die Schulden abzubauen und Franzosen mit höheren Löhnen und besseren Sozialleistungen zufriedenzustellen, braucht es eine Verschlankung des Staats. «Mehr als vernünftig ist deswegen die drastische Reduzierung der Zahl der Gemeinden, die seit der Französischen Revolution von 1789 gleichgeblieben ist», sagt Casasus. Heute zählt das Land 34’875 Kommunen, darunter 25’454 mit weniger als tausend Einwohnern.

Wohl nur ein Schnellschuss

Macron hat Lecornu beauftragt, bis Mittwochabend einen Ausweg aus der Krise zu finden. Gelingt ihm bei den Gesprächen mit den Parteien ein Kompromiss, könnte Macron ihn erneut mit der Regierungsbildung beauftragen oder einen neuen Premier ernennen. Scheitert Lecornu, dürfte Macron die Nationalversammlung auflösen und Neuwahlen ausrufen – schon für den 16. und 23. November.

Ein Rücktritt Macrons gilt trotz wachsender Kritik als ausgeschlossen. Der Präsident betont, er werde sein Mandat bis 2027 ausüben.

Was immer Lecornu vorschlagen wird, es dürfte sich bei diesem Schnellschuss wieder um Massnahmen handeln, die zum baldigen Scheitern verurteilt sind. Was Frankreich braucht, ist eine tiefgreifende Veränderung. Casasus: «Frankreich befindet sich am Scheideweg eines Landes, das nach wie vor über viele Trümpfe verfügt, die es aber nicht immer zeitgemäss einsetzt.»

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