«Mein Leben hier ist unerträglich»
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Menschen aus Gaza erzählen:«Mein Leben hier ist unerträglich»

Aziza (54) aus Gaza sass im Westjordanland fest, während ihre Kinder bombardiert wurden
So kritisch blicken Palästinenser auf den Waffenstillstand

Während sie sich krankheitsbedingt im Westjordanland behandeln liessen, gingen ihre Familien durch die Hölle: Blick hat Patienten in Nablus getroffen, die von ihren Familien in Gaza getrennt leben. Ihr Zuhause ist zerstört, ihre Kinder traumatisiert – oder tot.
Publiziert: 17.10.2025 um 08:56 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2025 um 14:53 Uhr
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Mutter Aziza (54) reiste im August 2023 für eine Krebsbehandlung ins Westjordanland. Im Oktober brach der Krieg aus.
Foto: Ahmad Alrajabi

Darum gehts

  • Palästinensische Patienten leiden unter der Trennung ihrer Familien im Gazastreifen
  • Ihre Familien hingegen leiden unter dem Krieg
  • 73'731 Menschen laut palästinensischem Gesundheitsministerium im Gazastreifen getötet
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Helena GrafReporterin

Ein Videoanruf aus dem Gazastreifen. «Mama, komm bitte nach Hause», sagt Delia* (10). «Das werde ich, sobald die Grenzen offen sind», antwortet Aziza (54). Ihre Stimme ist ruhig, liebevoll. Doch die Worte ihrer Tochter, sagt sie zu Blick, zerreissen ihr das Herz.

Die Familie stammt aus Deir al-Balah, einer Stadt inmitten des Gazastreifens. Mutter Aziza erkrankte an Krebs. Im August 2023 reiste sie für eine Behandlung ins Westjordanland. Dann, im Oktober, brach der Krieg aus. Seitdem sitzt sie in Nablus fest. Getrennt von ihrer Familie.

«Wir haben viel durchgemacht», erzählt Delia am Telefon. Etwa, als in der Nähe eine Rakete einschlug und ihr die rechte Gesichtshälfte verbrannte. Oder als ihre grosse Schwester, völlig unterernährt, einen Sohn zur Welt brachte – und sie keine Milch für ihn fanden.

Seit dem Abkommen zwischen der Hamas und Premierminister Benjamin Netanyahu (75) schweigen zwar die Waffen. Doch die Versorgung im Gazastreifen bleibt katastrophal. Lebensmittel sind knapp, die Preise hoch. Viele leben in Ruinen und Zelten, hungrig und in Angst.

Abkommen nur eine Pause

«Israel kann die Bombardierung jederzeit fortsetzen», sagt Ibrahim* am Telefon zu seinem Vater Zaid*, einem Arzt, der ebenfalls im Westjordanland festsitzt. Für ihn ist das Abkommen keine Lösung – nur eine Pause. Die meisten Palästinenser teilen seine Befürchtung.

Trotz der Bedrohung wünschen sich Zaid und Aziza nichts sehnlicher, als wieder bei ihren Familien zu sein. «Das hier ist kein Leben», sagt Zaid. Der Arzt wohnt in einem Hotel, verlässt es nur wenige Stunden am Tag. Aus Angst, israelische Soldaten könnten ihn wegen seiner Herkunft bestrafen.

«Am schwierigsten ist das Essen», sagt Zaid. «Ich sitze vor meinem Teller und fühle mich schuldig. Wie kann ich essen, während meine Frau und Kinder Hunger leiden?»

Jeden Tag schaut Zaid die Statistiken der Verstorbenen im Gazastreifen an. 73'731 Menschen sind laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium getötet worden. Er glaubt, dass es mehr sind. «Diejenigen, die noch unter den Trümmern liegen oder deren Leichen von Katzen und Hunden gefressen werden, zählen sie nicht mit», sagt er leise.

Ein gebrochener Mann

Hafith (72) hat seinen Sohn im Krieg verloren. Er wohnt einen Stock über Aziza, kam wie sie kurz vor Kriegsbeginn für eine Operation nach Nablus.

Er bricht in Tränen aus, als er von seiner Familie erzählt. «Mein Sohn wurde bei einem Raketenangriff getötet», sagt er. «Als ich davon erfuhr, erlitt ich einen Herzinfarkt.» Seitdem sind seine Arme und Beine teilweise gelähmt.

Seine übrige Familie lebt seit vier Monaten im Gazastreifen in einem Zelt am Meer. «Sie haben alles verloren», sagt Hafith. Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat er keine mehr. Abkommen hin oder her – er sei, sagt er, ein gebrochener Mann.

Blick-Reporterin Helena Graf war in Nablus im Westjordanland unterwegs.
Foto: Helena Graf

Seit zwei Jahren keine Schule

Azizas Tochter Delia hält die Handykamera auf den kleinen Enkel, der mitten im Krieg geboren wurde. Der Bub mit den lockigen Haaren und den runden, braunen Augen lächelt in die Kamera.

Trotz Unterernährung gehe es ihm inzwischen etwas besser, sagt Aziza. Die grössten Sorgen mache sie sich um Delia (10) und ihren Bruder (12).

«Sie verpassen ihre Kindheit, können seit zwei Jahren nicht in die Schule», sagt sie. In den Telefongesprächen habe sie gemerkt, wie sich ihr Zustand verschlechterte. «Delia begann, sich nachts einzunässen.»

Während ihre Familie ums Überleben kämpfte, ging Aziza allein zur Chemotherapie. Sie erhielt eine Knochenmarktransplantation. Doch der Krebs kam zurück. «Ich habe Metastasen im ganzen Körper», sagt sie.

Das Spital in Nablus kann ihr nicht mehr helfen. Doch Aziza kann nirgendwohin. Die Strassen zwischen den Städten des Westjordanlands werden von israelischen Soldaten kontrolliert. Wer reisen will, muss zahlreiche Checkpoints passieren – ein Risiko, das sie nicht eingehen kann.

Ihre Tochter Delia weiss nichts von der Krankheit. Am Telefon erzählt das Mädchen, wie erleichtert sie war, als das Abkommen unterzeichnet wurde. «Ich dachte: Jetzt kommt meine Mama endlich zurück!»

Doch die Grenzen bleiben geschlossen. Wie lange noch, weiss niemand. Aziza will durchhalten. «Die Hoffnung auf Heilung habe ich aufgegeben», sagt sie. «Aber nicht die Hoffnung, zu Hause bei meiner Familie sterben zu können.»

*Namen geändert 

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