Darum gehts
- Letzte Geiseln aus Gaza freigelassen. Israel feiert Ende des Kriegs
- Psychologin warnt vor Herausforderungen bei der Wiedereingliederung der Geiseln
- 251 Menschen wurden am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt
Die Hand auf den Nacken des anderen gelegt, stehen sich Gali (28) und Ziv (28) Berman gegenüber. 738 Tage ist es her, seit sich die Zwillinge zuletzt in die Augen sahen. Ein intimer Moment, eingefangen von einem Fotografen. Das Bild erscheint auf dem grossen Bildschirm am Geiselplatz in Tel Aviv. Jubel bricht aus.
Tausende Menschen haben sich Montagmorgen dort versammelt. Sie verfolgen, wie die letzten Geiseln aus dem Gazastreifen dem israelischen Militär übergeben werden. Sie tragen Flaggen, halten Plakate, singen, schreien, weinen. «Ich fühle mich, als könnte ich endlich wieder atmen», sagt Batia, eine junge Frau aus Tel Aviv.
«Beginn einer neuen Ära»
Es sind Szenen kollektiver Erleichterung. Die Israelis feiern das Ende des Kriegs – und den Beginn einer neuen Ära, wie Premierminister Benjamin Netanyahu (75) es nennt.
Die 20 überlebenden Geiseln sind die letzten von rund 251 Menschen, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden. Vor den Linsen unzähliger Kameras schliessen sie ihre Familien in die Arme. Lachen und Tränen – live übertragen.
Währenddessen sitzt Shapira Ofrit-Berman zu Hause, ausserhalb der Stadt – und weiss nicht, was sie fühlen soll. Mit den Brüdern Gali und Ziv ist sie nicht verwandt, sie trägt nur denselben Nachnamen. Berman ist Psychoanalytikerin und Professorin, sie betreut zahlreiche Überlebende des 7. Oktober – auch befreite Geiseln.
Die heutigen Bilder sieht sie mit anderen Augen. «Mir fällt sofort auf, dass viele der Geiseln die Arme verschränkt halten, als sie den Soldaten begegnen», sagt sie. «Ich glaube, sie wollen verhindern, dass sie umarmt werden.»
Überforderung und Enttäuschung
Berman ist auf Traumata spezialisiert. Nach dem Angriff vor zwei Jahren gründete sie eine Organisation, die Überlebenden und Angehörigen kostenlose Therapie anbietet.
Sie weiss, was auf die Befreiten und ihre Familien zukommt. «Menschen mit einem Trauma haben ähnliche Bedürfnisse wie Kleinkinder: Sie brauchen Nähe und Sicherheit, aber auf ihre eigene Weise. Gleichzeitig reagieren sie wie Teenager – mit plötzlichen, heftigen Gefühlen.»
Für die Angehörigen sei das schwer auszuhalten. «Sie erwarten etwas anderes, sind vielleicht überfordert oder enttäuscht.» Die Betroffenen wiederum verstünden oft selbst nicht, woher ihre Emotionen kommen. «In der Therapie suchen wir nach den Gründen – und finden sie in den Erlebnissen, die sie verdrängt haben.»
«Solange sie schweigen, bleibt die Distanz»
Berman erzählt von einer Patientin, die als Hamas-Geisel festgehalten wurde. «Sie geht aus, trifft Freunde, reist. Doch sie sagt, sie fühle dabei fast nichts.»
Nur wer spricht, könne heilen, sagt Berman: «Solange sie schweigen, bleibt diese Distanz – zwischen ihnen, ihren Gefühlen und den Menschen um sie herum.»
In Tel Aviv wirken solche Gedanken heute fern. Das sei auch gut so, meint Berman. Am Tag der Freilassung dürfe die Freude überwiegen.
Am Nachmittag bricht auf dem Geiselplatz erneut Jubel aus. Donald Trump erscheint auf dem Bildschirm, als er das israelische Parlament besucht. Menschen strecken die Fäuste in den Himmel, tragen Hüte mit seinem Namen, schwenken US-Flaggen. «Trump ist unser Held!», rufen sie.
Etwas abseits steht Ival (21), eine Freundin der Familie von Evyatar David (24) – einer der soeben Befreiten. «Seine Familie hat so sehr für seine Freilassung gekämpft. Es ist unglaublich, dass er wieder zu Hause ist», sagt sie.
Noch im August hatte die Hamas ein Video von David veröffentlicht: abgemagert, mit einer Schaufel in der Hand, in einem sandigen Tunnel. «Hier grabe ich mein eigenes Grab», sagt er in dem Clip.
Nun wird David ins Spital in Petah Tikva, nahe Tel Aviv gebracht. Er wirkt gefasst, kann selbständig gehen. «Wir haben zwei Jahre lang jeden Donnerstag ein Konzert für ihn veranstaltet», erzählt Ival. «So wollten wir ihm Kraft geben.»
Sterbliche Überreste noch im Gazastreifen
Zurück bleiben an diesem Montag 24 der 28 Familien, deren Angehörige in Geiselhaft starben. Ihre sterblichen Überreste sollten übergeben werden – doch nur vier Familien konnten ihre Toten in Empfang nehmen.
Die Hamas behauptet, man wisse nicht, wo sich die übrigen befänden. Das Forum der Geisel-Familien fordert, dass die Vermittler «sofort handeln, um dieses schreckliche Unrecht zu beenden».
Als die Sonne über Tel Aviv sinkt, hängen noch immer Fahnen über dem Platz. Musik läuft, auf dem Bildschirm die Fotos der Befreiten – und derer, die nicht zurückgekehrt sind. Ein Tag des Jubels, der Hoffnung und des Schmerzes geht zu Ende. Und für die Betroffenen beginnt nun das, was am schwersten ist: das Weiterleben.