Darum gehts
Auf einer Grossbaustelle zeigt sich das wahre Wesen eines Gebäudes erst, wenn alle Wände eingerissen und die alten Leitungen freigelegt sind. Beim Schweizer Technologieunternehmen ABB ist die Baustelle fast schon ein Dauerzustand. Ständig schraubt, deichselt und hämmert ein Manager an einem Teil des Gebäudes herum. Bis keiner mehr weiss, was eigentlich die Grundstruktur ausmacht.
Was von ABB übrig bleibt, ist kaum wiederzuerkennen. Das Industrieschwergewicht, das im Jahr 1988 aus der Fusion der schwedischen Asea und der schweizerischen Brown, Boveri & Cie. entstanden war, hat sich komplett verwandelt. Aus dem Unternehmen mit Fokus auf Lokomotiven, Kraftwerk- und Anlagenbau wurde ein Techkonzern mit Dienstleistungen im Bereich Elektrifizierung und Automation. Der Konzern hat alles abgestossen, was nicht mehr dazu passte: 2020 die Stromnetzsparte, 2021 den Kupplungs- und Getriebehersteller Dodge, 2022 das Turboladergeschäft Accelleron und zuletzt im Oktober dieses Jahres die Robotiksparte.
Hat sich ABB gesundgeschrumpft? Sozusagen – das Unternehmen ist profitabler denn je. Der Umsatz belief sich 2024 auf 33,7 Milliarden Dollar bei einer operativen Ebita-Marge von 18,1 Prozent, der Reingewinn lag bei 3,9 Milliarden Dollar – alles Rekordwerte. Auch für das laufende Jahr zeichnet sich ein positiver Trend ab. «ABB hat 2025 neue Rekordwerte bei der operativen Performance erzielt», bestätigt ein Sprecher auf Anfrage der Handelszeitung. Die Aktie bewegt sich mit 60 Franken auf einem Höchststand (siehe Grafik auf Seite 10). Mit einer Marktkapitalisierung von fast 110 Milliarden Franken gehört ABB zu den Schwergewichten im Leitindex SMI. «ABB ist gesund, kerngesund», sagt Florian Sager, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank.
Und doch ist ABB in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent. Schlagzeilen machen nur der Abbau und Verkäufe. Wofür der Konzern steht, ist unklar. Das muss jetzt CEO Morten Wierod richten. Der Norweger, der im August 2024 sein Amt angetreten hat, ist seit bald dreissig Jahren im Konzern. Wohin steuert er das zwar erfolgreiche Unternehmen, dem aber durch die Umbauten das Profil abhandenkam?
Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
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Abbau gehört zur Konzern-DNA
Abgebaut wird nicht erst, seit Wierod die Bauleitung innehat. Sein Vorgänger Björn Rosengren verordnete dem Unternehmen eine Schrumpfkur. 10’000 Stellen fielen weg, 45 Standorte liess er schliessen. Rosengren setzte mit dem Betriebsmodell «The ABB Way» die Entscheidungsgewalt eine Hierarchiestufe nach unten und übertrug den Einzelbereichen die Ergebnisverantwortung.
«ABB war lange Zeit eine Spielwiese für Manager. Erst die Ankunft von Björn Rosengren als CEO 2019 und die Abkehr von der Matrixorganisation kurz darauf haben vieles ins Positive gedreht», sagt Vontobel-Analyst Mark Diethelm. Über Jahrzehnte wurde der Konzern immer wieder neu erfunden. Percy Barnevik etablierte in den 1990er-Jahren eine Matrixorganisation, die sein Nachfolger Göran Lindahl später in eine Spartenstruktur umwandelte. Anfang der 2000er-Jahre geriet ABB in eine existenzielle Krise. Eine Welle von Asbestklagen, negative Schlagzeilen sowie die Folgen der Dotcom-Blase setzten den Konzern massiv unter Druck. Die Aktie brach ein, ein Konkurs galt zeitweise als möglich.
Unter Jürgen Dormann rappelte sich das Unternehmen wieder auf, allerdings nur durch einen erheblichen Eingriff in Strukturen und Portfolio. 2008 startete Joe Hogan einen Expansionskurs mit Zukäufen, vernachlässigte aber die Integration. Nachfolger Ulrich Spiesshofer versuchte, stärker zu integrieren, verstrickte sich dabei jedoch in zu vielen Baustellen. Das kostete ihn den Job.
Im Gegensatz zu den 2000er-Jahren steht ABB heute solide da. Die Aufgabe Morten Wierods ist es, auf Erfolgskurs zu bleiben und die strategische Ausrichtung zu definieren. Eine Mammutaufgabe, die die ganze Branche kennt, wie ein Blick über die Landesgrenze hinaus zeigt: Roland Busch, CEO von Hauptkonkurrent Siemens, steht vor einer ähnlichen Weggabelung. Sein Vorgänger Joe Kaeser baute den deutschen Technologiekonzern tiefgreifend um, die Transformationsgeschichte erinnert an diejenige von ABB: Er gliederte Sparten aus, verschlankte den Konzern von 18 Divisionen auf fünf Kernbereiche und brachte die Medtech-Tochter Siemens Healthineers an die Börse.
Bei ABB steht die verkaufte Division Robotics exemplarisch für das wechselhafte Wesen der Branche. Lange Zeit war ABB im Robotikgeschäft führend. Noch vor der Fusion lancierte die schwedische Asea 1974 den weltweit ersten vollelektrischen Industrieroboter. Nach der Fusion wurden die Roboter zum Aushängeschild für den Innovationsgeist des Unternehmens. Sie galten als optimale Schnittstelle von Elektrifizierung und Automation. Von den späten 1960er-Jahren bis 2016 verkaufte Asea respektive später ABB 250’000 Roboter. Ein Höhepunkt war die Markteinführung des kollaborativen Zweiarmroboters Yumi im Jahr 2014. Selbst Rosengren sagte einst, er sehe in der Robotik langfristig das beste Wachstum.
Aufstieg und Fall der Roboter
Und dann kam China. In den letzten zehn Jahren holte das Land nicht nur in der Halbleiter- und Automobilindustrie massiv auf, sondern überholte Europa auch in manchen Bereichen. Gleichzeitig wuchs in China eine starke Robotikindustrie heran, die westliche Anbieter zunehmend verdrängte. Im Jahr 2023 entfiel bereits fast die Hälfte der neu installierten Industrieroboter in China auf chinesische Hersteller.
Dazu kam das hiesige Robotikfundament ins Wanken. Das Robotikgeschäft der ABB war stark von der europäischen Industrie abhängig, insbesondere von der deutschen Automobilbranche. Seit China zu einem ernstzunehmenden Automobilstandort wurde und europäische Hersteller unter Druck gerieten, verlor ABB auch in Europa an Aufträgen. Das Resultat: Das Robotikgeschäft erzielte zuletzt rund 2,3 Milliarden Dollar Umsatz, was rund 7 Prozent des Gesamtumsatzes entspricht. Die operative Marge lag mit 12,1 Prozent deutlich unter jener des Gesamtkonzerns.
Der einst erfolgsverheissende Robotikbereich wurde zum Sorgenkind. Das wusste Wierod bereits bei Amtsantritt, weshalb er nach einer Lösung suchte. Zunächst strebte er einen Spin-off und einen Börsengang an. Das Vorbild war Accelleron. Das Geschäft mit den Turboladern hatte Wierods Vorgänger Rosengren im Jahr 2022 ausgegliedert und an die Börse gebracht. Nach einem verhaltenen Start stand die Aktie Ende November mit 62 Franken und einer Marktkapitalisierung von 5,9 Milliarden Franken positiv da. Dieses Erfolgsbeispiel wollte Wierod auf die Robotik ummünzen.
Lieber den Spatz in der Hand …
Es kam anders als geplant: Aus dem Börsengang wurde ein Verkauf an den japanischen Tech-Investor Softbank. Viele Marktbeobachterinnen bewerteten diesen Schritt positiv, der finale Kaufpreis in der Höhe von rund 5,4 Milliarden Dollar übertraf die Schätzungen vieler Analysten. Auch Wierod freuts. «Softbank wird ein hervorragendes neues Zuhause für das Geschäft und seine Mitarbeitenden sein», hielt er in einer Mitteilung zum Verkauf fest. Zuletzt waren für diese Division siebentausend Mitarbeitende beschäftigt.
Die Robotiksparte war trotz ihrem Glamour-faktor nie das Herzstück der ABB. «Das Filetstück ist die Elektrifizierung», sagt ZKB-Analyst Florian Sager. ABB liefert in diesem Bereich Produkte und Dienstleistungen im Mittel- und Niederspannungssegment, von Schaltanlagen über die Stromverteilung in Gebäuden bis hin zur Industriesteckdose. Elektrifizierung bildet das Rückgrat der Energieversorgung von Fabriken, Rechenzentren und grossen Infrastrukturvorhaben.
Dieses Geschäft boomt. Im vergangenen Jahr erzielte der Bereich einen Umsatz von 15 Milliarden Dollar – fast die Hälfte des Gesamtumsatzes – und eine Marge von 22,7 Prozent. ABB profitiert vom steigenden Strombedarf und von den höheren Strompreisen. Zudem müssen viele Stromleitungen, beispielsweise in den USA, modernisiert werden. «ABB ist heute auf robusten Absatzmärkten und entlang globaler Megatrends wie Elektrifizierung und Automation hervorragend aufgestellt», sagt ein Sprecher.
Der Konzern reitet auch auf der KI-Welle mit: Der Einsatz von künstlicher Intelligenz treibt den Strombedarf in die Höhe, was zu einer wachsenden Nachfrage nach Rechenzentren führt, um eine stabile und zuverlässige Versorgung zu gewährleisten. Dazu später mehr.
ABB ist solide aufgestellt. Die Elektrifizierung, gekoppelt mit der Automation und der Antriebstechnik, bildet ein starkes Grundgerüst. «Die Bereiche greifen gut ineinander», urteilt Sager. Ist das nun der Moment, in dem man sagen kann, ABB sei gebaut?
Die grosse Frage: Wie weiter?
Für Wierod gibt es drei Szenarien für die Zukunft: weiter wie bisher, einkaufen oder der Griff zum Vorschlaghammer. Die Anzeichen deuten derzeit eher auf Option eins, also «more of the same». Am letzten Kapitalmarkttag verkündete Wierod am 18. November, ABB wolle die Dezentralisierung weitertreiben. Und er verlagerte die Entscheidungsgewalt eine Hierarchiestufe tiefer auf 75 Business-Lines. Weiterhin gilt: Profitabilität vor Wachstum. Erst wenn die Margenziele erreicht sind, schaltet man auf Wachstumskurs. Diese Strategie steigert zwar die Profitabilität, bringt aber langfristig wenig Innovationen hervor.
Oder geht Wierod doch bald auf Einkaufstour? Die Stärke dazu hätte das Unternehmen, wie Vontobel-Analyst Mark Diethelm betont: «ABB ist auf einem Niveau – sowohl margenseitig wie auch bezüglich Rentabilität –, auf dem sie noch nie war.» Mit den Erlösen aus dem Verkauf der Robotiksparte und einer Nettoverschuldung von 1,5 Milliarden Franken sitzt das Unternehmen auf einem guten Polster.
Jüngst machten Gerüchte die Runde, ABB sei interessiert, den französischen Konkurrenten Legrand zu kaufen. Doch für einen so grossen Wurf sei ABB, wie sie heute ist, «zu vernünftig», meint ZKB-Analyst Florian Sager. Aus informierten Kreisen ist zu hören, dass der Vorstand Zukäufe pragmatisch angeht. Jede Akquisition soll besser sein, als eigene Aktien zurückzukaufen. ABB kommentiert das Gerücht nicht und sagt nur: «Wir schliessen nicht aus, Zukäufe in der Grössenordnung einer Division zu tätigen, sofern eine solche Akquisition strategisch passt und zusätzliche Wertschöpfung bringt.»
Ein paar Zukäufe mehr würden die Anleger freuen. ABB erreichte die organischen Wachstumsziele von 5 bis 7 Prozent im letzten Konjunkturzyklus. Das Wachstum bei den Zukäufen liegt mit 0,6 Prozent aber unter den angestrebten 1 bis 2 Prozent. Dabei gäbe es durchaus attraktive Zukaufsmöglichkeiten. Beispielsweise bei den bereits erwähnten Rechenzentren, deren Geschäft boomt.
ABB-Konkurrent Schneider Electric baut derzeit seine Position in diesem Bereich gezielt durch Akquisitionen aus. Für 2024 weist der französische Elektrotechniker gemäss eigenen Angaben eine End-Market-Exposure von rund 24 Prozent im Bereich Data Center & Networks auf. Bei ABB liegt der Anteil deutlich tiefer: Rund 6 Prozent der Endmärkte entfallen auf den Bereich Rechenzentren.
Der nächste Wackelkandidat
Letztlich könnte Wierod aber auch nochmals zum Vorschlaghammer greifen. ABB stösst Geschäftsbereiche ab, wenn sie nicht passen oder nicht performen. Der Konzern sieht sich als «führendes Technologieunternehmen in den Bereichen Elektrifizierung und Automation, das eine nachhaltigere und ressourceneffizientere Zukunft ermöglicht». Dabei setzt ABB nicht auf jede Art von Elektrifizierung – wie der Verkauf der Stromnetzsparte zeigt – und auch nicht auf jede Art von Automation – wie wiederum der Verkauf der Robotik beweist. Analyst Sager nennt einen weiteren Bereich, der quer zum Leitbild steht: die Fertigungsautomation.
Mit dem Verkauf der Robotik verschlankte sich der Konzern auf drei Geschäftsbereiche und gliederte die Fertigungsautomation in den Bereich Automation ein. Damals sah sich ABB dank dem Zukauf noch als «ideal positioniert, um die Wachstumschancen der vierten industriellen Revolution zu nutzen», wie sie beim Kauf mitteilte.
Heute sprechen die Zahlen eine andere Sprache: Der Geschäftsbereich Robotik und Fertigungsautomation verzeichnete nicht nur wegen des schleppenden Robotikgeschäfts einen Rückgang. Auch die Fertigungsautomation kämpft mit rückläufigen Auftragszahlen. «Wir managen unser Portfolio aktiv, derzeit ist ein Verkauf dieser Division jedoch keine Option», sagt ein ABB-Sprecher auf Anfrage der Handelszeitung. Man sehe «erhebliche Vertriebssynergien» der Sparte mit allen Geschäftsbereichen.
Das alles macht deutlich: Stillstand ist auf der Baustelle ABB keine Option.