Darum gehts
Auf den ersten Blick das perfekte Idyll an der Oberen Bühlstrasse in Küsnacht ZH: Die Mehrfamilienhäuser an der Zürcher Goldküste sind von sattgrünem Rasen umgeben, Vögel zwitschern, und der Wald in Gehdistanz wirkt wie Balsam für die Seele. Doch quasi über Nacht hat in diesem Wohnparadies der Blitz eingeschlagen – oder besser gesagt der Kündigungshammer: Alle Bewohnerinnen und Bewohner der zwei Wohnblöcke mit den Hausnummern 19 bis 27 müssen raus.
Über 50 Mietparteien müssen bis spätestens August 2026 eine neue Bleibe finden. Eigentümerin ist die Turintra AG, die zur UBS gehört. Sie will die Mehrfamilienhäuser aus den 1970er-Jahren totalsanieren. Der «Tages-Anzeiger» hat als Erstes darüber berichtet.
Mieterinnen und Mieter sind geschockt
Für das Ehepaar Ritter war die Leerkündigung ein Schlag ins Gesicht, wie sie Blick erzählen. Seit über vier Jahrzehnten lebt der 74-Jährige mit seiner Ehefrau in einer Vierzimmerwohnung im Parterre. Für rund 2500 Franken brutto im Monat.
«Die Leerkündigung hätte vermieden werden können, davon bin ich überzeugt», ärgert sich Ritter. «Das sieht man doch direkt nebenan.» Die beiden Nachbarhäuser – die im selben Jahr erbaut wurden, aber eine andere Besitzerin haben – wurden bereits vor zehn Jahren im bewohnten Zustand saniert. «Wir müssen jetzt raus, weil die Turintra unsere Wohnblöcke verlottern liess», sagt Ritter weiter. Das Ehepaar und andere Mieter wollen sich wehren.
Auch Ruth (84) und Ernst Jost (85) zeigen sich erschüttert. Blick trifft sie in ihrer Dreieinhalbzimmerwohnung, die das Ehepaar seit über zehn Jahren bewohnt und eine ähnlich hohe Miete wie Ritters zahlt. «Man hat schon gespürt, dass da etwas kommt, weil alles sehr veraltet ist», sagt Ernst. «Aber als dann der eingeschriebene Brief mit der Kündigung reingeflattert kam, war es doch ein Schock.»
Leerkündigungen sind finanziell lukrativ
Die Zahl der Leerkündigungen in den Schweizer Zentren und Agglomerationen hat seit der Jahrtausendwende stark zugenommen. An zentralen Lagen geht das freie Bauland zur Neige. Dazu kommt die Innenverdichtung. Und auch der Geldbeutel der Eigentümer spielt eine grosse Rolle. «Je näher man beliebten Zentren wie Bern, Lausanne oder Zürich ist, desto höher ist der finanzielle Anreiz für eine Leerkündigung», sagt Immobilienexperte Donato Scognamiglio (55). «Die Vermieter können die Mieten in einem überhitzten Markt nach einer Totalsanierung mit Leerkündigung viel stärker erhöhen als bei einer Sanierung im bewohnten Zustand», führt er aus. In Regionen mit geringerer Wohnungsnachfrage gäbe es viel weniger Leerkündigungen.
Scognamiglio rechnet vor: Ein 40-jähriges Gebäude wird im bewohnten Zustand saniert. Die Kosten von 200’000 Franken pro Wohnung können gemäss Mietrecht zu 60 Prozent auf die Mieter abgewälzt werden. Dadurch steigt der Mietzins um 6000 Franken. Hat die Wohnung vorher 18’000 Franken im Jahr gekostet, sind es neu 24’000 Franken. Macht eine Erhöhung um 33 Prozent. «Nach einer Leerkündigung werden die Mieten an die ortsüblichen Mietpreise angepasst. Sie steigen also um 50 Prozent und mehr, ohne dass der Vermieter mit Widerstand rechnen muss», führt der Immobilienexperte aus.
Nach Sanierung gibts «markt- und ortsübliche» Mieten
Zentral hierbei ist der Baulandpreis: Die Stadt Zürich schätzt den Quadratmeterpreis fürs Jahr 2024 auf knapp 5800 Franken und damit viermal so hoch wie vor 20 Jahren. Wer vor 20 Jahren gekauft hat, kann diese Wertsteigerung des Bodens nicht einfach auf die Mieten abwälzen. Nach einer Leerkündigung und einer Erneuerung ist das jedoch möglich: dank Orts- und Quartierüblichkeit.
Die UBS sagt auf Anfrage, dass die umfassende Sanierung im bewohnten Zustand nicht möglich sei. So werden die Gebäudehülle energetisch saniert sowie Küchen, Bäder, Böden und die Heizung ersetzt. «Die heutigen Mietenden können nach der Sanierung gerne zurückkommen und werden bei der Neuvermietung priorisiert», schreibt die UBS weiter. Was die Mieter danach zahlen müssten? «Die Mietpreise sind heute noch nicht bekannt, werden aber dem markt- und ortsüblichen Angebot entsprechen», lautet die Antwort.
Tiefere Einkommen besonders oft betroffen
Ein Blick auf die Immobilienportale zeigt, dass neue Viereinhalbzimmerwohnungen mit rund 100 Quadratmetern in Küsnacht über 4000 Franken im Monat kosten. Die vorherigen Mieter können sich die neuen Mietpreise oft nicht leisten, wie David Kaufmann (39) von der ETH Zürich weiss. Der Assistenzprofessor für Raumentwicklung und Stadtpolitik ist Co-Autor einer jüngst erschienenen Studie zum Thema Bautätigkeit und Verdrängung in der städtischen Schweiz. «Leerkündigungen treffen vor allem ärmere Menschen, da diese häufiger in älteren Häusern mit tieferen Mieten wohnen», sagt er. Darunter sind oft ältere Menschen und Familien. Die neuen Mieter sind meist bedeutend kaufkräftiger.
Die Studie zeigt auch, dass rund zwei Drittel der geschassten Mieter in der Agglomeration Zürich innerhalb der Wohngemeinde ein neues Dach über dem Kopf finden. «Trotzdem geht bei unfreiwilligen Wohnungswechseln oft die lokale Verankerung samt sozialem Netzwerk in der Nachbarschaft verloren», so Kaufmann.