Krise im Nachbarland
Frankreichs Chaos ist ein Risiko für die Weltwirtschaft

Die politische Instabilität, ein ausuferndes Budgetdefizit und eine massive Verschuldung wecken Ängste vor einer neuen Euro-Krise. Frankreichs Chaos ist ein Risiko für die Weltwirtschaft.
Publiziert: 17.10.2025 um 14:58 Uhr
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Präsident Emmanuel Macron (r.) mit seinem Vertrauten Sébastien Lecornu, dem aktuellen Regierungschef des Landes.
Foto: imago/ABACAPRESS

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Markus Diem Meier
Handelszeitung

In unmittelbarer Nachbarschaft der Schweiz – in Frankreich – spielt sich aktuell ein Drama ab, das nicht nur für die dortige Wirtschaft und Politik, sondern für ganz Europa eine enorme Bedeutung hat – und damit auch für die Schweiz.

Frankreich steckt in der schwersten institutionellen Krise seit Bestehen der Fünften Republik. Diese wurde nach chaotischen Jahren vom einstigen Weltkriegsgeneral Charles de Gaulle im Jahr 1958 eingeführt. Die Präsidentschaft wurde damals mit deutlich mehr Macht ausgestattet, um für Stabilität zu sorgen. Von dieser Stabilität ist aktuell nichts mehr zu sehen, und mit Emmanuel Macron ist es jetzt gerade der Präsident, der besonders angeschlagen ist. Weder hat er noch eine Mehrheit im Parlament hinter sich, noch kann er sich auf Beliebtheitswerte im Volk stützen – im Gegenteil. Bis ins Jahr 2027 kann er nur deshalb im Amt bleiben, weil das die Verfassung vorsieht. Selbst ihm bisher nahestehende Politikerinnen und Politiker empfahlen ihm jedoch einen früheren Rücktritt.

Ausgelöst hat die Krise Macron selbst, als er im Juni 2024 das französische Parlament auflöste, nachdem die Rechtsaussenpartei Rassemblement National von Marine Le Pen bei den Europawahlen einen deutlichen Wahlsieg hatte verzeichnen können. Seine Hoffnung, dass sich dabei gemässigte Parteien durchsetzen, erfüllte sich jedoch nicht. Wahlgewinner waren die Kräfte am äusseren rechten und linken Rand des politischen Spektrums. Seither ist es dem Präsidenten nicht mehr gelungen, eine stabile Regierung zu etablieren.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Zwei von ihm beauftragte Regierungschefs wurden nach wenigen Monaten vom Parlament mit einer Misstrauensabstimmung wieder von der Macht vertrieben. Sébastien Lecornu – ein enger Vertrauter des Präsidenten – trat am 6. Oktober nach weniger als einem Monat desillusioniert von sich aus zurück. Zwar hat er danach auf Drängen von Macron die Regierungsverantwortung erneut übernommen. Auf eine gesicherte Unterstützung im Parlament kann er aber weiter nicht zählen. Daran ändert auch nichts, dass er am 14. Oktober von der Fraktion der Sozialisten immerhin die Zusage erhalten hat, dass sie Misstrauensanträge gegen ihn nicht unterstützen würden.

Unmittelbare Folgen für die Schweiz

Die unmittelbare Bedeutung Frankreichs für die Schweiz ergibt sich aus den engen Handelsbeziehungen. Die politischen Wirren wirken sich auf Frankreichs Konjunkturlage aus – und damit indirekt auf die Nachfrage auch nach Gütern aus der Schweiz. Frankreich steht gemäss jüngsten Daten an sechster Stelle der wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Für die Industrie steht der Exportmarkt Frankreich sogar an vierter Stelle.

Das Konsumentenvertrauen in Frankreich ist im laufenden Jahr deutlich eingebrochen. Seit dem Sommer hat sich die Lage der Industrie zudem weiter eingetrübt, wie die jüngsten Daten des Einkaufsmanagerindex zeigen, der auf eine Kontraktion hindeutet. Für die Schweizer Industrie, die bereits unter den 39-Prozent-Zöllen der USA leidet, kommt diese zusätzliche Eintrübung in einem wichtigen Absatzmarkt zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt. Wie Jean-Philippe Kohl, Vizedirektor und Leiter Wirtschaftspolitik beim Industrieverband Swissmem, gegenüber Blick erklärt hat, sind die Schweizer Exporte nach Frankreich bereits im zweiten Quartal des Jahres im Vergleich zum Vorquartal um 4,3 Prozent geschrumpft.

Die schlechte Stimmung in Frankreich hat aber auch Folgen für den Dienstleistungssektor. Dessen Einkaufsmanagerindex zeigt ebenfalls eine Kontraktion an. Gewichtigere Folgen für die Schweiz hat die Krise in Frankreich jedoch indirekt, wenn sie die Stabilität der Euro-Zone gefährdet.

Alles entzündet sich am Budget

Das grösste Risiko geht von der Verschuldung aus. Die politischen Wirren erschweren es massiv, ein Budget für Frankreich zu beschliessen, das den Trend zu einer explodierenden Verschuldung des Landes brechen würde. Damit das französische Parlament verfassungsmässig mindestens siebzig Tage Zeit hat, einen Gesetzesentwurf zum Budget zu beraten, hätte ein solcher am 13. Oktober eingebracht werden sollen. Am 14. ist es Sébastien Lecornu immerhin gelungen, den Sozialisten im Parlament das Versprechen abzuringen, ihn bei anstehenden Vertrauensabstimmungen nicht im Einklang mit der Opposition von ganz rechts und links zu stürzen.

Der Preis dafür ist aber, dass der Regierungschef wichtige Reformen wie jene zu einer Erhöhung des Rentenalters aussetzt. Das wiederum verschärft die Finanzlage des Landes weiter. Kommt am Ende kein Budget zustande, droht für das nächste Jahr eine Notregelung, bei der sich der Staatshaushalt an den Vorgaben des laufenden Jahres orientieren muss. Der Staat könnte seine Grundfunktionen zwar aufrechterhalten, neue politische Vorhaben bleiben aber weitgehend ausgeschlossen. Ausgesetzt oder verzögert würden neue Ausgabenprogramme und Investitionen sowie nicht bereits gesetzlich geregelte Subventionen und Unterstützungsprogramme.

Laut Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Frankreich im Jahr 1980 zum letzten Mal ein Plus im Staatsbudget ausgewiesen. In den 45 Jahren seither lagen die Ausgaben jedes Jahr höher als die Einnahmen. In 19 von 26 Jahren seit dem Bestehen des Euro hat das Land die Vorgabe eines Budgetdefizits von maximal 3 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) überschritten, teilweise sogar massiv. Seit 2023 beläuft sich das Defizit gar auf deutlich mehr als 5 Prozent, 2024 belief es sich auf 5,8 Prozent. Die Folgen dieser Vernachlässigung der Staatsfinanzen zeigen sich im Anstieg der Bruttoverschuldung: Im Jahr 2000 lag sie noch bei rund 60 Prozent gemessen am BIP, jetzt beträgt diese Quote 113 Prozent.

Das ist nach jener von Griechenland und Italien die dritthöchste der Euro-Zone. In den nächsten beiden Jahren dürfte sie gemäss Schätzungen des IWF sogar auf mehr als 120 Prozent ansteigen. Die Entwicklung macht deutlich, dass die Probleme auf tiefgreifende strukturelle Fehlentwicklungen zurückgehen. Der französische Staat dominiert die Wirtschaft mit einem Anteil von 58,3 Prozent an der Wirtschaftsleistung – das ist der grösste Staatsanteil unter den westlichen entwickelten Ländern. Auch die Steuer- und Abgabenquote des Landes zählt zu den höchsten, und das Gleiche gilt für den Anteil der Sozialausgaben am BIP. Reformen in diesen Bereichen haben angesichts der extremen Opposition in Frankreich kaum Chancen, wie auch die aktuelle Entwicklung wieder zeigt.

Eine Folge der Krise ist, dass keine der grossen Ratingagenturen der wirtschaftlichen Nummer zwei der Euro-Zone mehr die höchste Bonitätsnote verleiht. Fitch und Morningstar DBRS haben ihr Rating erst im September weiter reduziert. Die Agenturen verweisen bei ihrem Urteil auf die fiskalischen Ungleichgewichte des Landes und auf die Unsicherheiten hinsichtlich der weiteren Fiskalpolitik. Auf den Kapitalmärkten hat die Krise zu einem erheblichen Anstieg der Rendite der zehnjährigen französischen Staatsanleihen auf rund 3,6 Prozent im September geführt, vor einem Jahr lag die Rendite noch bei 3 Prozent. Zwischenzeitlich hat sie jüngst selbst jene von Italien übertroffen, dessen Staatsschuldenquote mit 137 Prozent deutlich höher liegt und das diesbezüglich als klassisches Sorgenkind der Euro-Zone gilt.

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Dank dem jüngsten Deal von Lecornu mit den Sozialisten ist die Rendite immerhin leicht gesunken. Die hohe Rendite der Staatsanleihen steht nicht nur für die Unsicherheit um die Finanzen des Landes, sie heisst auch, dass Frankreich neue Schulden zu einem höheren Zins aufnehmen muss; dasselbe gilt für die Ablösung bestehender Schulden, wenn sie zurückbezahlt werden müssen. Bereits jetzt machen die Zinskosten Frankreichs mit rund 58 Milliarden Euro rund 10 Prozent des Gesamtbudgets des Landes aus.

Befürchtung einer erneuten Euro-Krise

Beim Blick auf die Rendite der Staatsanleihen schwingt die Angst vor einer weiteren Euro-Krise mit. Von 2011 bis zum Sommer 2012 sind die Renditen von immer mehr Ländern der Euro-Zone massiv angestiegen – angetrieben vor allem von der Befürchtung eines Staatsbankrotts Griechenlands. Die höheren Renditen haben nicht nur die Kosten für die Verschuldung der Länder erhöht, sondern auch die Aussichten für das Wirtschaftswachstum eingetrübt – und damit die Aussichten auf Steuereinnahmen. Die Folge war eine Spirale mit immer weiter steigenden Renditen und Zinsen in der gesamten Euro-Zone. Der Bankrott eines oder mehrerer Mitgliedsländer wurde wahrscheinlich und letztlich auch das Auseinanderbrechen der Währungsunion.

Unterbrochen wurde der Teufelskreis erst, als Mario Draghi, der damalige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), erklärte, dass er mit Geldspritzen eine weitere Explosion der Renditen aufhalten würde – gegen strenge Auflagen. Diese Krise hat auch die Schweiz durch eine massive Entwertung des Euro zum Franken zu spüren bekommen. Um sich der dramatischen Aufwertung des Frankens entgegenzustemmen, führte die Schweizerische Nationalbank nach massiven Devisenmarktinterventionen im Sommer 2011 einen Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro ein, den sie erst im Januar 2015 wieder aufgab.

Obwohl die Rendite für französische Staatsanleihen aktuell nicht weit vom Höchststand von rund 3,7 Prozent während der Euro-Krise entfernt ist, wird das Risiko einer solchen Entwicklung vorerst noch als gering eingeschätzt, auch weil die Rendite jüngst wieder leicht gesunken ist. In einem Beitrag in der «Financial Times» erklärt Natacha Valla, Dekanin der Wirtschaftsfakultät der Pariser Universität Sciences Po und ehemalige EZB-Generaldirektorin, die relative Gelassenheit an den Märkten mit der Erwartung, dass auch diesmal die EZB oder andere Euro-Länder zu Hilfe eilen würden. Doch die Ökonomin bezweifelt, dass sich Frankreich auf diese Hilfe verlassen kann. Und sie warnt davor, dass sich Marktkrisen nicht linear und langsam, sondern meist abrupt verschärfen – vor allem dann, wenn sich noch weitere internationale Krisen zu einer fragilen Lage zuspitzen.

Hinzu kommt, dass der Zusammenhalt der Euro-Länder seit der Euro-Krise ohnehin gelitten hat; in vielen Ländern sind Parteien im Aufwind oder Regierungen an die Macht gelangt, die nationalistische Anliegen über jene der Gemeinschaft stellen. Die politische Stabilität nimmt nicht nur in Frankreich ab.

Natacha Valla macht aber auch deutlich, dass Frankreich kein Solvenzproblem hat. Das Land ist grundsätzlich reich, und seine Wirtschaft wäre stark genug, um die Kosten der Verschuldung zu tragen. Die französische Wirtschaft zählt zu den innovativsten weltweit, sie verfügt über eine Vielzahl an international führenden Firmen, gerade auch im Hightech-Bereich. Das französische Start-up Mistral AI zum Beispiel ist allen anderen europäischen Anbietern im Bereich künstliche Intelligenz voraus.

Das Problem ist die Politik, die sich nicht um nachhaltige Staatsfinanzen schert und wenig Gespür für wirtschaftliche Rahmenbedingungen zeigt. Und wie die jüngste Entwicklung zeigt, führt die Krise hier nicht zu einer Besserung. Die politische Polarisierung hat sich weiter verschärft, und es besteht wenig Aussicht, dass die strukturellen Mängel angegangen werden – im Gegenteil. Auch wenn zwischenzeitlich wieder etwas Ruhe einkehren sollte, ist ein erneuter abrupter Anstieg der Renditen und Zinsen eine permanente Gefahr – und damit auch das Risiko einer Krisenspirale, die ganz Europa erfassen würde.

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