Darum gehts
- Immer mehr Jugendliche entscheiden sich für ein 10. Schuljahr
- Orientierungslosigkeit und frühe Berufsentscheidung sind Gründe für zusätzliches Schuljahr
- In Basel-Stadt stieg die Zahl der Schüler im 10. Schuljahr um 60 Prozent
Stell dir vor: Du bist 13 Jahre alt und sollst jetzt schon entscheiden, welchen Beruf du ein Leben lang ausüben wirst. Für viele Jugendliche ist das eine riesige Herausforderung. Statt sich sofort festzulegen, hängen manche deshalb ein zusätzliches Jahr dran – das 10. Schuljahr.
Im Kanton Basel-Stadt hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler im 10. Schuljahr seit 2021 von 400 auf jährlich 642 erhöht – ein Plus von 60 Prozent in nur vier Jahren. Auch im Kanton Luzern rechnet man mit steigenden Zahlen. In Graubünden und Zürich zeigt sich ein gemischtes Bild: Während die Berufsschule Graubünden und die Freien Katholischen Schulen Zürich von einem regelrechten Andrang auf Brückenangebote berichten und sogar Wartelisten führen, bleiben die Gesamtzahlen in den beiden Kantonen konstant oder sind sogar eher sinkend.
Das 10. Schuljahr wird vielerorts als Brückenangebot bezeichnet, da die Schüler neben der Schule auch praktische Erfahrungen in Vorkursen oder Praktika sammeln können. Die Kosten variieren enorm: Öffentliche Angebote sind oft stark subventioniert und kosten die Familien nur wenige Tausend Franken pro Jahr, während private Schulen bis zu 30'000 Franken verlangen.
Wieso ein zusätzliches Schuljahr?
Der Andrang auf das Brückenangebot hat verschiedene Ursachen. Bildungsexpertin Rahel Tschopp (54) beobachtet: «Ich erlebe immer mehr Kinder und Jugendliche, die zwar wissen, in welchen Fächern sie stark sind – aber wenig Ahnung haben, wofür sie sich ausserhalb der Logik der schulischen Fächer interessieren.» Das liege unter anderem daran, dass Kinder heute früher eingeschult werden – und somit auch die Berufsentscheidung früher getroffen werden muss. Viele fühlen sich noch nicht bereit für den Berufseinstieg. Tschopp ist Heilpädagogin und leitet die Firma Denkreise, die Schulen dabei unterstützt, sich neu zu erfinden.
Blick hat bei einigen Anbietern nachgefragt. Zum einen entscheiden sich Jugendliche für das 10. Schuljahr, weil sie keine Lehrstelle gefunden oder die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium nicht bestanden haben. Zum anderen berichten Schulen von einer zunehmenden Orientierungslosigkeit. So das Lerncenter, eine Zürcher Privatschule: «Für die Jugendlichen ist es anspruchsvoller geworden, ihre Interessen zu finden. Mit der Digitalisierung geht die Individualität verloren, denn man wird vom Smartphone absorbiert.»
Ausserdem hilft das 10. Schuljahr bei der persönlichen Entwicklung. «Viele Jugendliche haben Ziele und Fähigkeiten, können diese jedoch noch nicht vollständig entfalten. Ein weiteres Jahr bietet ihnen die Chance, ihr Potenzial auszuschöpfen», erklärt Johannes Eichrodt (62), Rektor der Privatschule Freie Schule Zürich.
Immer mehr Jugendliche nehmen sich deshalb bewusst mehr Zeit für ihre berufliche Orientierung. «Die Zukunft erscheint jungen Menschen weniger plan- und berechenbar, was sich, so unsere Hypothese, auch auf ihre Haltung im Berufswahlprozess auswirkt», heisst es beim Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt. Sie gehen die Berufswahl also mit mehr Umsicht an.
Als Sprungbrett zur Lehrstelle
Was den Zeitdruck auf Jugendliche weiter erhöht: Lehrstellen werden oft mehr als ein Jahr vor Beginn vergeben. Teenager müssen sich also schon Anfang der zweiten Oberstufe mit der Jobwahl auseinandersetzen. «Das setzt die Lernenden unter Druck. Viele sind zu diesem Zeitpunkt noch in der Entscheidungsfindung, sodass man die endgültige Berufswahl oft zu spät fällt», erklärt Frei's Schulen Luzern auf Anfrage von Blick. Neben der Orientierung spielt auch der Wettbewerb um gute Lehrstellen eine Rolle.
Vorwissen in berufsspezifischen Fächern erhöhe auch die Chancen beim Lehreinstieg und reduziere die Risiken eines Lehrabbruchs, so die Privatschule. Genau dieses Vorwissen können sich die Jugendlichen im 10. Schuljahr aneignen. Auch Christoph Büchli-Sen (48), Direktor der Freien Katholischen Schulen Zürich, findet: «Eine passende Lehrstelle kann durchaus entscheidend sein für die Berufskarriere, es lohnt sich also, in sie zu investieren.»
Das 10. Schuljahr ist heute weit mehr als nur eine Notlösung: Immer mehr Jugendliche nutzen es gezielt, um sich in Ruhe zu orientieren und den nächsten Schritt zu planen.