Darum gehts
Uma Thurman schaut mit laszivem Blick auf den Küchentisch, Zigarette in der Hand, geladene Pistole in Griffweite – ganz Gangsterbraut. Dieses ikonische Plakat zum Film «Pulp Fiction» hängt an der Wand einer ETH-Wohngemeinschaft in Zürich, doch Zeit für den Tarantino-Klassiker bleibt den Jungen nicht. Sie schütten Kaffee in rauen Mengen in sich hinein und machen kaum ein Auge zu. Dauerstress pur, denn in wenigen Wochen stehen an der ETH die Jahresprüfungen an.
Es sind Erfahrungen, die andere hinter sich haben, etwa Sulzer-Chefin Suzanne Thoma. Sie studierte an der ETH Zürich Chemie. Calvin Grieder, früher Bühler-Chef und heute Multi-Verwaltungsrat, schloss in Maschinenbau ab, Albert Rösti, diplomierter Agronom, brachte es zum Bundesrat. Martin Haefner, Mathematiker, verwaltet heute sein Milliardenportfolio, dito Hansjörg Wyss, der als Bauingenieur abschloss. Und mit Gabriel Brenna sitzt bald ein promovierter Elektroingenieur im Chefbüro der Raiffeisen Schweiz.
Top in Europa
Überstehen die Youngster aus der WG die letzten Tests, stehen auch ihnen die Karrieretüren weit offen. Die Firmen reissen sich um den El.-Ing. ETH, die Chemieingenieurin ETH oder der Master of Science ETH in Elektrotechnik, abzulesen am Zahltag. Die Einstiegssaläre liegen weit über dem Schnitt der Masse der Uni-Absolventen. Und ihre Gehälter werden weiter ansteigen, denn die Digitalisierung in den Betrieben verlangt in den Topjobs immer mehr Exzellenz in Tech. Und die ETH-Absolventen liefern sie. Dazu bringen sie einen ausgeprägten Arbeitseifer mit, eingeübt durch jahrelanges Büffeln.
Das machte die ETH zur ersten Kaderschmiede im Land – und zu einer führenden Bildungsinstitution weltweit, wie die Uni-Rankings von Times Higher Education oder QS zeigen. Bislang reichte es der ETH zu einem Toprang in Europa, an die globale Spitze hat sie es aber bislang nicht geschafft.
Doch das könnte sich ändern. Denn die Konkurrenz in den USA – Harvard, Yale, Stanford – steht unter politischem Druck, weil Donald Trump nach der DEI-Welle und den Pro-Palästina-Demos sauer ist und staatliche Zuschüsse in Milliardenhöhe blockiert. Auch private Geldgeber verweigern Hunderte Millionen Dollar, und das schlägt durch. Schliesslich wird seit Monaten vor Gerichten um die Zulassung ausländischer Studierender gezankt. Die ETH Zürich und die EPF Lausanne hoffen, in diesem schrillen Streit zu den Profiteuren zu gehören. Doch dazu müssen die Schweizer Topadressen ihre Hausaufgaben machen. Und ausgerechnet jetzt will der Bund bei seinen Tophochschulen sparen.
Firmen reissen sich um die Absolventen
Unter den Augen von Uma Thurman ist Leon B. am Büffeln. Er ist Informatikstudent im dritten und letzten Bachelor-Jahr. Viel hat er investiert, einschliesslich der Wiederholung des ersten Jahres. Besteht er die nächsten Prüfungen, ist das Stahlbad überstanden. Dann wartet die Wirtschaftswelt mit offenen Armen.
Wie begehrt er ist, hat er schon im bisherigen Studium erfahren. Da gehören Einladungen von UBS, McKinsey oder Rheinmetall für ETH-Studierende zum Normalprogramm. Kein Aufwand wird gescheut; er reicht vom Freibier fürs Töggeliturnier der Informatikstudierenden bis zur Einladung an einen mehrtägigen Firmenevent in Monaco. Das Employer Branding greift früh und setzt auf Konstanz. An der jährlichen Polymesse, einem Speed-Dating für High-Potentials, präsentiert sich selbst die biedere SNB aufgeschlossen und jung. Die Big Four – Deloitte, EY, KPMG und PwC – üben sich in Charmeoffensiven, denn sie müssen regelmässig die Reihen in ihren Partnerschaften auffüllen. Eine Branche jedoch überstrahlt alle: Big Tech. Beim Lohnangebot, beim Arbeitsplatz, bei den Goodies, beim Prestige.
Besonders generös sind Google, Meta und Disney, wenn es ums Umgarnen von Kandidaten für Wachstumsfelder wie Machine-Learning, Data Analytics oder Robotics geht. Ein Einstiegspaket liegt mit Bonus und Aktienzuteilung bei 180000 Franken, bereits im Praktikum sollen es knapp über 100000 Franken sein. Noch höher sind laut Berichten die Ablösesummen dreier ehemaliger ETHler, die erst von Google zu Open AI und kürzlich dank persönlichem Zutun von Marc Zuckerberg zu Meta wechselten. Beim Teamtransfer flossen angeblich Millionen.
Die ETH gilt als praxisfern unter den Studierenden
Das ist freilich nur etwas für Leute mit Erfahrung, das weiss auch ETH-Student Leon. «Das Informatikstudium an der ETH liefert viel Theorie, aber wenig Praxis.» Frisch ab Studium, sagt er, wüsste er nicht, wie er das gelernte Wissen im Geschäftsalltag einsetzen könnte. An der ETH lernen Maschinenbauingenieure und Physikerinnen das analytisch-technische Denken, aber wirtschaftliche Strategien vermittelt die Hochschule – zumindest im Grundstudium – kaum.
Die Praxisferne bemängeln auch ehemalige Studierende, die seit einigen Jahren in der Praxis arbeiten. Eine Projektmanagerin, heute bei einem grossen Schweizer Lebensmittelhändler tätig, bekam von Ebitda-Margen, Cashflow und Eigenkapitalrenditen in den heiligen Hallen wenig mit; dieses Wissen eignete sie sich erst später beim Arbeitgeber an. Nun zielt sie auf einen MBA, der vom Unternehmen finanziert würde – für eine höhere Kaderposition ein wichtiger Schritt.
Die Bereitschaft zum Dazulernen muss hoch sein, das wissen auch die Alumni. Calvin Grieder, Verwaltungsrat bei Givaudan und SGS, meint:«Die ETH war eine sehr gute Grundlage für meinen Weg in die Zukunft – wohl die beste Basis, die ich mir vorstellen konnte.» Anschliessend sammelte er bei Swisscom und Bühler viel Erfahrung ein und absolvierte obendrein an der Harvard ein Advanced Management Program.
Bundesrat Albert Rösti wendet ein, dass der Fokus sehr stark auf analytischen und technischen Fähigkeiten gelegen habe, in der Praxis jedoch auch kommunikative Kompetenzen, Empathie oder ein Gesellschaftsverständnis benötigt würden. Das müsse man sich über die Jahre aneignen. «Die ETH Zürich hat mir aber das Rüstzeug vermittelt, komplexe Zusammenhänge analytisch zu erfassen und strukturiert anzugehen.» Diese Fähigkeit sei in der heutigen, von Wandel geprägten Welt von unschätzbarem Wert – in Wirtschaft, Verwaltung, Politik.
Diese Worte nimmt ETH-Rektor Günther Dissertori ernst: «Wir fördern als Hochschule bewusst den Erwerb eines breiten Kompetenzspektrums sowie das kritische und unternehmerische Denken.» Er weiss aus vielen Gesprächen, wie gefragt diese Fähigkeiten in Kaderpositionen sind. Doch seine Arbeit wird nicht einfacher, denn die technischen Hochschulen in Zürich wie in Lausanne stehen unter Spardruck: 78 Millionen Franken will der Bund ab 2027 bei ihnen einsparen. Überdies macht der Trend zu einer besseren Work-Life-Balance auch vor der Top-Uni nicht halt.
Ferien nur im Ausnahmefall
Im Mai 2024 kündigte die Hochschule das «PAKETH» an, das eine Reglementsänderung vorsieht und den Leistungsdruck reduzieren soll. Bisher hatten die Studierenden offiziell zwei Ferienwochen im Sommer – lernfreie Zeit zwischen den Prüfungen und dem Semesterstart. Ab dem Herbstsemester 2027 sind es sieben Wochen, um die Studierenden zu entlasten. Diese Änderung löste heftige Diskussionen aus, auch in der ETH-WG. «Wir haben so fünf Wochen weniger zum Lernen. Aber diese Zeit brauche ich zum Lernen. Ohne sie geht es nicht», kritisiert Leon. «Trotz allen Übungen, die wir während des Semesters abgeben, sind wir nicht bereit für die Sommerprüfungen.»
Auch Ehemalige sind skeptisch. Einige befürchten, man wolle zwar das Prestige der ETH, aber nicht unbedingt den Aufwand. So warnt Sulzer-Chefin Suzanne Thoma: «Die Zeit zum Lernen und Vertiefen während der Ferien fällt weg. Daraus folgt, dass entweder die Selektion verschärft oder das Prüfungsniveau reduziert wird.»
ETH-Rektor Günther Dissertori erklärt: «Ziel ist, der Lehre mehr Entwicklungsspielraum zu geben und den Studierenden mehr Freiraum zu verschaffen.» So könnten sie Erfahrungen ausserhalb des Studiums sammeln, eine Forderung der Wirtschaft. «Dabei wird das Niveau der Ausbildung nicht beeinträchtigt», verspricht Dissertori. Auf jeden Fall will er an den Stärken festhalten, die besten Talente an die ETH holen, Forschung und Lehre eng verknüpfen und die strenge Selektion nach dem Basisjahr beibehalten. Ob ihm dieser Dreiklang wirklich gelingt, ist nicht garantiert. Zumindest bei der Verknüpfung von Forschung und Lehre gibt es noch viel zu tun. Und der Leistungsanspruch muss hoch gehalten werden.
Wie die ETH ihr Niveau bei Spardruck und gleichzeitig steigenden Studierendenzahlen halten kann, ist die Kernfrage. 2011 studierten 16000 Personen an der ETH Zürich, heute sind es über 26000. Damit überholte die ETH die US-Hochschule Harvard, die 21000 Studierende hat. Nach langem Hin und Her erhöht nun die ETH die Studiengebühren für Ausländer ums Dreifache – von bisher 730 Franken auf neu 2190 Franken je Semester. Damit reagiert die ETH auf die geplanten Kürzungen der Bundeszuschüsse.
Und auch nach der Gebührenerhöhung bleibt ein ETH-Studium im internationalen Vergleich ein Discountangebot. In Harvard kostet das Semester locker das Zehnfache. Gut möglich, dass schon bald ein Go-East einsetzt, weil Trump die Studentenvisa als Druckmittel gegen Harvard oder Columbia verwendet. Längst haben Europas Staatenlenker und Rektoren einen Lockruf angestimmt und millionenschwere Transferfonds für Neuankömmlinge aus Übersee bereitgestellt.
Am lautesten wirbt Emmanuel Macron für Talente aus Trump-Land: «Wer Freiheit liebt, kommt zu uns, betreibt Forschung und investiert in die Zukunft.» Derart laute Werbespots hat die ETH kaum nötig, denn die Ausländer kommen auch so schon: Mehr als 40 Prozent ihrer Studierenden sind Ausländer, an der EPF Lausanne sind es gar 60 Prozent. In Harvard liegt der Anteil bei 27 Prozent und dürfte mit dem Disput über Aufenthaltstitel einbrechen.
Angesichts des Spardrucks des Staates setzt die ETH auf Partnerschaften mit der Privatwirtschaft. Dafür ist die ehemalige Ascom-Chefin Jeannine Pilloud zuständig. Sie vermittelt zwischen der ETH und Unternehmen wie Amazon, Google, IBM oder UBS, die vom Talentpool profitieren wollen. Die Nähe zur Spitzenhochschule lockt Firmen an, wie der Zuzug des Genfer Waren- und Prüfkonzerns SGS zeigt. «Die Firmen siedeln sich rund um Zürich an, da sie hier die besten Leute erhalten», sagt Pilloud.
Die Besten wollen in die Schweiz
Auch unter den Spitzenforschern wächst das Interesse. In einer Umfrage im Fachmagazin «Nature» gaben drei Viertel an, über den Wechsel an eine ausländische Uni nachzudenken. Das hätte für die ETH durchaus seinen Reiz, denn hochkarätige Professoren ziehen Fördermittel und Kooperationen mit der Wirtschaft an. Wie viel helle Köpfe mit Kontakten bewegen, zeigt der ehemalige Nasa-Forschungschef Thomas Zurbuchen, der 2023 die Leitung von ETH Zürich Space übernahm und für Schub bei Finanzen und Prestige sorgte.
Die besten Studierenden wollen in die Schweiz, ausgezeichnete Professoren zieht es an die ETH, und Unternehmen suchen die Nähe zur Hochschule. Und die Konkurrenz in Übersee steht unter Druck. Gute Voraussetzungen, um sich als beste Wirtschaftsuni zu positionieren. Jetzt muss die ETH ihre Chance nutzen, so wie Leon seine in der WG-Küche. Den Besuch der Journalistin will er daher schnell hinter sich bringen, denn der kostet ihn Zeit. Und die braucht er zum Lernen.