Darum gehts
Eines Abends sass Johann Hug in seinem Haus und grübelte. Er hatte Studienkollegen getroffen, sie hatten über Lebensziele gesprochen. «Ich merkte: Alles, was sich Gleichaltrige für die Zukunft wünschen, habe ich schon erreicht – ohne etwas dafür zu tun.»
Johann Hugs Eltern lebten getrennt, der Vater starb früh. Von ihm erbte er ein bis zwei Millionen Franken. Noch keine 30 Jahre alt, besass er ein Haus mit Garten, ein Auto, ein Wohnmobil.
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Sein Konto war so gut gefüllt, dass er seinen gut bezahlten IT-Job hätte an den Nagel hängen können. «Ich fühlte mich schlecht, denn das ist unfair», erzählt er dem Beobachter.
Eine ungerechte «Geburtslotterie»
Seither engagiert Hug sich bei Taxmenow. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Reiche stärker besteuert werden. Mitgründerin ist die österreichische Millionenerbin Marlene Engelhorn. Wie sie findet er die «Geburtslotterie» ungerecht und sieht Milliardäre als «Systemfehler».
Eigentlich dürfe es keine Menschen geben, die so reich sind, sagt Johann Hug, der in Wirklichkeit anders heisst. Doch solange die Vermögenssteuer tiefer ist als die durchschnittliche Aktienrendite, werde sich nichts ändern. «Reiche werden noch reicher.»
Selbst ein guter Lohn reicht nicht
Ungefähr zur gleichen Zeit wie Johann Hug kam in Meiringen BE auch Rolf Knecht ins Grübeln. Der 47-jährige Küchenchef lebte in einer Zweizimmerwohnung – mit über 100 Quadratmetern zwar, aber wenigen Rückzugsorten für ihn, seine Frau und die drei Kinder.
Nach 20 Jahren in Kanada und Asien hatten sie in Meiringen nichts anderes gefunden. «Es waren fast nur Ferienwohnungen ausgeschrieben.» So entstand die Idee, ein Haus zu bauen. Die SRF-Sendung «Dok» hat diese Odyssee verfilmt.
Schon der erste Termin bei der Bank war ernüchternd: «Obwohl wir zusammen 144’000 Franken im Jahr verdienten, fehlten uns 400’000 Franken für die Hypothek.»
Knecht konnte kein Geld aus seiner Pensionskasse nehmen. Er hatte für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet, seine Altersvorsorge liegt gesperrt auf einem Konto, bis er 50 ist.
Existenzielle Fragen
Knecht musste seine Eltern um eine Schenkung bitten. «Das war kein Problem, wir sprachen immer offen über Geld», sagt er. Doch was, wenn er stirbt und seine Frau die Kinder auszahlen muss? Müsste sie das Haus dann verkaufen?
Der Traum vom Eigenheim warf existenzielle Fragen auf. Und ganz umsonst war die Schenkung auch nicht: Die Eltern verlangten eine Vereinbarung, dass die Kinder im Trennungsfall mit dem obhutsberechtigten Elternteil im Haus bleiben dürfen.
Johann Hug fiel das eigene Haus in den Schoss, Rolf Knecht musste einen Teil seines Erbes vorzeitig beziehen und sich verschulden. Doch im Grunde eint die beiden mehr, als sie trennt. Sie sind privilegiert: Sie stammen aus Familien ohne Geldsorgen.
100 Milliarden Franken pro Jahr
Die «richtigen» Eltern zu haben, wird in der Schweiz immer bedeutsamer. Die Summe der Erbschaften wächst von Jahr zu Jahr. Aktuell dürften es gegen 100 Milliarden Franken sein, schätzt der Ökonom Marius Brülhart von der Universität Lausanne. Das ist doppelt so viel, wie die AHV jährlich an Altersrenten auszahlt.
Brülharts Berechnungen zeigen ausserdem: Die Erbschaften wachsen überproportional zur Wirtschaft. Vor 50 Jahren machten sie noch 5 Prozent des Volkseinkommens aus, inzwischen sind es 16 Prozent. Jeder zweite Franken Privatvermögen ist geerbt.
Der Berner Soziologe Ben Jann untersuchte vor einigen Jahren Erbschaften im Kanton Bern und setzte sie ins Verhältnis zum Vermögen. Ergebnis: Die reichsten 10 Prozent erhalten zwei Drittel der Erbschaften, die übrigen 90 Prozent nur einen Drittel.
Viele erben wenig, wenige viel: Wer hat, dem wird gegeben. Die Zahlen gelten mehr oder weniger für die ganze Schweiz, sagt Jann. «Es dürfte Kantone geben, in denen das Ungleichgewicht etwas kleiner ist, und andere, in denen es grösser ist.»
Internationaler Spitzenwert
Die Daten zeigen auch: Die meisten Erben sind 55 Jahre alt oder älter. Sie brauchen das Geld nicht mehr, um ein Haus zu bauen oder ein Unternehmen zu gründen. Laut Marius Brülhart dienen Erbschaften eher dazu, weniger zu arbeiten und sich früher pensionieren zu lassen. Diese Reduktion des Arbeitsangebotes entspricht rund 10 Milliarden Franken, wie Brülhart in einer neuen Studie berechnete.
Wer eine kleinere Summe erbt, fährt vielleicht in die Ferien oder kauft ein neues Auto. Diejenigen, die viel erben, können das Geld gar nicht ausgeben, bevor sie sterben. Sie legen es an – und hinterlassen es den Nachkommen.
So wächst die Ungleichheit. In der Schweiz besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung rund 45 Prozent der Vermögen – ein internationaler Spitzenwert.
Bedrohter Mittelstand
Dass sich die Familie Knecht trotz gutem Einkommen kein Haus leisten kann, ist ein Symptom dieser Entwicklung – und zugleich ein Motor dafür. Zahlen von Wüest Partner zeigen: Inzwischen können sich 80 Prozent der Haushalte, die sich typischerweise für ein Einfamilienhaus interessieren, kein solches leisten. Knappes Bauland und die hohe Nachfrage treiben die Preise in die Höhe.
«Der Immobilienmarkt ist eine wichtige Möglichkeit für den Mittelstand, am Wohlstand teilzuhaben», sagt Ökonom Marius Brülhart. Doch dieser Markt wird immer exklusiver.
Laut Studien der Raiffeisenbank tragen Erbschaften ihren Teil dazu bei: Die Nachfrage bleibt hoch, weil Erbvorbezüge und Schenkungen den Kauf ermöglichen – wie bei den Knechts. Wer nichts erben kann, zieht den Kürzeren. Diese Menschen zahlen weiterhin Miete und profitieren nicht von den Immobilienwertsteigerungen.
Es komme zu einem verstärkten Vermögenstransfer von Ungebildet zu Gebildet, von Jung zu Alt und von Arm zu Reich, so die Raiffeisen-Studie.
Rechtsparteien im Vorteil
Ungleichheit wirkt auch politisch. Von den 300 reichsten Menschen in der Schweiz haben 60 Prozent ihr Vermögen geerbt. Wenn zunehmend die Herkunft den Erfolg bestimmt, stellt sich die Frage, ob sich Leistung noch lohnt.
Dies könne gefährlich sein in einer Gesellschaft, die sich vordergründig am Leistungsprinzip orientiere, sagt Tamara Bosshardt, Soziologin an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
«Wenn es aussichtslos erscheint, dass man aufsteigt, verlieren Menschen das Vertrauen in Institutionen. Manche suchen Alternativen und landen bei Verschwörungsideologien und rechtspopulistischen Parteien.» Bosshardt verweist auf eine Studie aus Deutschland, die diesen Mechanismus beschreibt.
Bosshardt hat mit Schweizer Daten zu Geldtransfers zwischen Eltern und Kindern geforscht. Dabei zeigte sich dasselbe Bild wie bei den ökonomischen Berechnungen: Wer hat, dem wird gegeben.
Kinder aus wohlhabenden Familien erhalten mehr Unterstützung. Sie sind dadurch freier in ihrer Lebensgestaltung und können auch leichter eigenes Vermögen aufbauen. Ausserdem erben sie eher als Kinder aus ärmeren Haushalten.
Umgekehrt erhalten ärmere Kinder weniger von den Eltern, unterstützen diese aber, wenn sie selber erwachsen sind. Sie können kaum eigenes Vermögen bilden, geschweige denn erben.
Reiche machen Politik
Geld haben bedeutet Chancen haben – und Macht. «Wohlhabende können den öffentlichen Diskurs überproportional beeinflussen, etwa indem sie Medien, Thinktanks, Parteien oder Abstimmungskämpfe finanzieren», sagt Ökonom Marius Brülhart.
Ein Beispiel ist die Kompassinitiative: Die milliardenschweren Gründer der Partners Group, Alfred Gantner, Urs Wietlisbach und Marcel Erni, bekämpfen das EU-Rahmenabkommen – medienwirksam unterstützt von Prominenten aus ihren Kreisen.
Dürfen Reiche sich nicht politisch engagieren? «Natürlich. Aber nicht jede Stimme zählt gleich viel», sagt Soziologe Ben Jann von der Uni Bern. Eine Pflegerin, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfe, habe nicht gleich viel Einfluss und erhalte nicht gleich viel Aufmerksamkeit.
«Ungleichheit untergräbt die Demokratie», so Jann weiter. Das sehe man in den USA. «Ohne reiche Gönner erreicht man dort gar nichts mehr.»
Erbschaftssteuern sind unbeliebt
Wenn Ungleichheit der Mehrheit schadet, müssten Ideen zur Umverteilung von Vermögen Anklang finden. Doch weit gefehlt. Erbschaftssteuern wurden in den letzten Jahrzehnten für direkte Nachkommen in fast allen Kantonen abgeschafft.
Die letzte Volksinitiative für eine nationale Erbschaftssteuer scheiterte 2015 mit 71 Prozent Nein-Stimmen. Der Juso-Initiative, über die am 30. November abgestimmt wird, droht ein ähnliches Schicksal. Sie will Erbschaften ab 50 Millionen Franken mit 50 Prozent besteuern.
Sie gilt als chancenlos, obwohl Erbschaftssteuern ökonomisch sinnvoller wären als etwa Einkommenssteuern. Sie hemmen nicht die Leistung, denn um zu erben, muss man nichts leisten. «Erbschaftssteuern sind eigentlich eine urliberale Idee. Die heutigen Liberalen haben das vergessen», sagt der Ökonom Volker Grossmann.
Grossmann ist Professor an der Uni Freiburg. In einem Interview mit dem «Blick» hatte er sich 2024 für die Juso-Initiative ausgesprochen. Was folgte, war ein Postfach voll böser E-Mails, «mehrheitlich von gebildeten Leuten in guten Positionen, aber ohne jegliche Argumente», erzählt er. Man habe ihn wissen lassen, er solle sich als Professor gefälligst nicht politisch äussern, schon gar nicht als eingewanderter Deutscher.
Eine irrationale Debatte
Die Debatte ist emotional aufgeladen – und irrational. Die meisten würden von einer Steuer auf hohe Erbschaften profitieren, lehnen sie aber ab. Erben verbindet man mit Tod und Familie – private Themen, aus denen der Staat sich nach der Ansicht vieler heraushalten sollte.
Volker Grossmann nennt drei weitere Gründe: «Viele denken, sie seien betroffen, obwohl sie es gar nicht sind. Sie halten Erbschaften für etwas, was einem zusteht, und sie verstehen die Freigrenze nicht.» Bei der Juso-Initiative würden viele denken, bei 100 Millionen müssten die Erben 50 Millionen abgeben. Tatsächlich sind es 25 Millionen – die Hälfte der 50 Millionen über der Freigrenze.
Gegner der Erbschaftssteuer argumentieren, das gleiche Geld werde doppelt besteuert: als Vermögen und als Erbschaft. «Sie vergessen dabei, dass der Vermögenszuwachs bei Aktien oder Immobilien selber nicht besteuert wird und dass im Prinzip auch bei der Mehrwertsteuer eine Doppelbesteuerung vorliegt», sagt Grossmann.
Steuerflucht macht Angst
Das stärkste Argument gegen die Erbschaftssteuer dürfte die Angst sein, viele Reiche könnten das Land verlassen. Stadler-Rail-Chef Peter Spuhler drohte mit Auswanderung. Er sagt, seine Nachkommen müssten das Unternehmen verkaufen, um die Steuer zu zahlen.
Ökonom Marius Brülhart hält die Sorge vor Steuerflucht für berechtigt. «Mehrere Studien belegen, dass ältere, hochvermögende Personen durchaus mobil sind, um ihre Erben vor hohen Steuern zu schützen.»
Eine Alternative wäre, die Vermögenssteuern zu erhöhen. Sie sind planbarer, da sie jährlich anfallen. Dagegen spricht, dass in den letzten Jahren viele Kantone die Vermögenssteuern gesenkt haben. Eine Erhöhung wäre kaum mehrheitsfähig.
Zudem liessen sich Vermögenssteuern leichter vermeiden als Erbschaftssteuern, sagt Volker Grossmann. «Man muss nicht wegziehen, nur kreativ sein.» Oder das Geld haben, um «kreative» Anwälte und Finanzfachleute damit zu beauftragen, nach entsprechenden Schlupflöchern zu suchen.
Geld umverteilen – aber wie?
Allerdings: Die Chancengleichheit wächst nicht automatisch, wenn der Staat mehr Geld bei den Reichsten abschöpft. «Man muss das Geld auch richtig verteilen», sagt die Ökonomin Isabel Martínez. Sie forscht an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich zu Ungleichheit und Steuern.
Ob der Staat Geld besser umverteilt als etwa Private, ist umstritten. In einer SRF-«Club»-Sendung sagte Partners-Group-Mitgründer Alfred Gantner sinngemäss, Private könnten Geld zielgerichteter und effizienter für wohltätige Zwecke einsetzen. Er engagiert sich mit zwei Stiftungen. Taxmenow-Mitgründerin Marlene Engelhorn entgegnete, man mache sich so vom Wohlwollen einiger Reicher abhängig.
120’000 Franken vom Staat für alle
Auch ETH-Ökonomin Isabel Martínez fehlt bei Stiftungen die demokratische Legitimation. Sie findet die Idee des Ökonomen Thomas Piketty interessant. Er schlägt ein Grunderbe für alle jungen Erwachsenen vor: Mit 25 Jahren soll jeder und jede 120’000 Euro vom Staat erhalten.
Finanziert durch Erbschaftssteuern, würde dies effektiv umverteilen, ähnlich wie bei der AHV, sagt sie. «Reiche zahlen den Grossteil, alle erhalten etwas. Und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem sie es brauchen können.»
Der Nachteil: «Manche könnten sich zurücklehnen. Mit 120’000 Euro kann man als junger Mensch eine Weile gut leben.»
Auch Johann Hug, der mit 27 ein Millionenvermögen erbte, könnte die Hände in den Schoss legen. Ganz anders Rolf Knecht. Der Küchenchef aus Meiringen wird die nächsten Jahrzehnte damit beschäftigt sein, die Hypothek von 800’000 Franken abzuzahlen.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 8. November 2024 veröffentlicht und zuletzt am 17. Oktober 2025 aktualisiert.