«Meine Schwester ist behindert»
Bernhard Russi intim wie nie

Im DOK-Film «Von hohen Gipfeln und dunklen Tälern», der am nächsten Donnerstag im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wird, zeigt Erfolgsmensch Bernhard Russi (68) eine ganze neue, eine ganz intime, eine ganz verletzliche Seite.
Publiziert: 08.01.2017 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:28 Uhr
«Mein Vater gab mir eine Ohrfeige»
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Russi prahlte nach erstem Sieg:«Mein Vater gab mir eine Ohrfeige»
Felix Bingesser

«Mein Vater ist gestorben als ich ihn am meisten gebraucht habe. Meine Frau kam in einer Lawine ums Leben. Meine kleine Schwester ist seit frühester Kindheit schwer behindert. Mein Bruder starb innert weniger Stunden an einer Infektion.» So beginnt der neuste Film über Sie. Nicht etwas viel auf einmal?
Bernhard Russi: Es ist mein Leben. Und es ist das erste Mal, dass ich so offen über meine Familiengeschichte rede.

Fällt ihnen das leicht?
Es ist gut so, weil ich während vieler Jahre gewisse Dinge auch verdrängt habe. Der Film fängt dramatisch an. Aber am Ende sage ich auch ganz klar: Ich bin ein glücklicher Mensch. Wenn ich zurückschaue sehe ich nur Sonnenschein.

Aber die Schicksalsschläge haben sich in ihrer Familie extrem gehäuft?
Wenn man die Summe sieht, dann hat man tatsächlich dieses Gefühl. Und man fragt sich, wie man so etwas überhaupt verkraften kann. Der Mensch kann das. Ohne die Lebensfreude zu verlieren.

Was war denn in ihrem Leben der schwierigste Moment?
Als ich die Nachricht vom Lawinentod meiner ersten Frau erhielt. Das hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Nicht in erster Linie wegen mir. Sondern weil ich nicht wusste, wie ich das unserem Sohn Ian erklären kann. Er war noch im Bett. Ich stieg die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Mit tausend Gedanken. Aber ohne Worte zu haben. Aber so ist der Mensch: Er funktioniert auch in solchen Momenten.

Ist alles Glück der Familie Russi auf den Sunnyboy Bernhard gefallen?
So sehe ich das nicht. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass meine Familie besonders hart vom Schicksal angepackt wurde. Aber das ist vielleicht auch meinem positiven Naturell zu verdanken. Und wie gesagt: Dieser Film und dieses Interview korrigieren vielleicht auch etwas dieses klischeehafte Sunnyboy-Image.

Im Film besuchen Sie ihre Schwester Madeleine. Sie ist seit sechzig Jahren schwer behindert. Sie bringen ihr Schokolade vorbei. Ein sehr intimer Moment.
Ja. Wie weit wir in diesem Film gehen war immer offen. Aber im Verlaufe der Zusammenarbeit hat sich dann ein Vertrauensverhältnis gebildet. Und ich bin froh, dass wir das alles aufgearbeitet haben. Wie offen ich geworden bin hat mich selber überrascht. Das war so nicht geplant. Aber ich bin dankbar, dass ich auch dank diesem Filmprojekt einmal ganz ehrlich mit mir selber sein musste. Meine Augen zu öffnen und mich mit allen Facetten meines Lebens auseinander zu setzen.

Was ist denn mit Ihrer Schwester passiert?
Sie war der Sonnenschein der Familie, der Stolz ihrer Brüder. Im Alter von drei Jahren hatte sie eine Hüftoperation. Danach ist sie aus der Narkose nie mehr richtig aufgewacht. Irgendwann hat das Wachstum ausgesetzt. Man muss sie herumtragen. Am Anfang hat sie meine Mutter noch lange zuhause gepflegt. Jetzt lebt sie seit vielen Jahren in einem Heim.

Hatten Sie immer intensiven Kontakt mit ihr?
Nein. Als ich am Höhepunkt meiner Karriere war, habe ich Besuche bei ihr schlecht verkraftet. Das hat mich immer runtergezogen. Ich musste das zeitweise auch verdrängen. Aus Selbstschutz.

Ihr Bruder Pius ist auch überraschend verstorben.
Ja. Er war 56 Jahre alt. Er hatte eine Infektion. Eigentlich nichts Dramatisches. Vierundzwanzig Stunden später war er tot. Ich war viel mit ihm zusammen. Er hat lange auch mein legendäres Dancing «Downhill» in Andermatt geführt.

Manfred, ihr anderer jüngerer Bruder, hatte auch Probleme. Er hat seinen Weg schwer gefunden, sagen Sie.
Ihm geht es heute wieder besser. Das war nicht immer so. Er war das grössere Talent als ich. Skitechnisch und athletisch. Aber plötzlich war er nur noch der Bruder von Bernhard Russi. Das war für ihn ganz sicher schwierig. Und hat ihn auch blockiert. Er wurde zum Grübler.

Und heute?
Wir haben ein tolles Verhältnis. Und ich freue mich sehr, dass es ihm gerade jetzt wieder besser geht. Ich bin immer für ihn da. Aber man fragt sich manchmal schon: Gleiche Gene, gleiche Talente. Der eine geht diesen Weg, der andere einen ganz anderen.

Im Film können Sie die Tränen nicht zurückhalten, wenn Sie von ihrem verstorbenen Vater sprechen.
Bei meinem WM-Titel 1970 in Gröden und beim meinem Olympiasieg 1972 war er dabei. Er war ein gewissenhafter Mann. Die Ruhe selbst. Und gerade damals hätte ich ihn noch gebraucht, obwohl ich schon erwachsen war. Wenn man plötzlich so im Rampenlicht steht braucht man jemanden,  der einem leitet und in Balance bringen kann. Weil man von viel Leichtfertigkeit umgeben ist. Diese Rolle konnte nur mein Vater ausfüllen.

Schon früher?
Ja. Als ich als Bub mein erstes Skirennen gewann, da kam ich am Abend nach Hause und habe von meinem Triumph geprahlt. Da habe ich eine Ohrfeige erhalten. Mein Vater war der Meinung, dass man etwas mehr erreichen müsse als einen Sieg in einem Massenstartrennen um sich so wichtig zu nehmen.

Eine Ohrfeige als Lebensschule?
Vielleicht, ja.

Und 1975 wurde er schwer krank.
Er war 56 Jahre alt und hatte Krebs. Ich war bei ihm am Spitalbett. Die Ärzte haben mir das gesagt, dass es zu Ende geht. Ich sollte an die Rennen nach Kitzbühel und war voller Zweifel. Er sagte: Fahre hin und gewinne dieses Rennen für mich.

Das hat nicht geklappt.
Nein. Ich habe mich total verkrampft, wollte meinem Vater unbedingt seinen letzten Wunsch erfüllen. Ich bin kurz nach der Mausefalle gestürzt. Es war schlimm, ein ganz grosse Leere. Das Abschiedsgeschenk für den Vater ist nicht gelungen.

Und sie haben Kitzbühel nie gewonnen.
Nein. Ich war mal Zweiter hinter Collombin. Aber ein Kitzbühel-Sieg blieb mir verwehrt.

Sie feierte trotzdem riesige Erfolge.
Der WM-Titel 1970 war der magische Moment. Diese Emotionen hatte ich im Sport nachher nie mehr. Auch nicht nach dem Olympiasieg. Und 1976 in Innsbruck habe ich ja eigentlich gehofft, dass Franz Klammer gewinnt. Ich habe gespürt, wie der Berg bebt und wie 60'000 Österreicher diesen Sieg wollen. Das hat für mich extrem gestimmt. Wie auch der Umstand, dass ich 1978 ganz spontan zurückgetreten bin.

Das haben Sie nie bereut?
Nie. Und die ganzen sportlichen Erfolge wurden relativiert bei der Geburt meiner zwei Kinder. Das hat alles in den Schatten gestellt. Das ist der Sinn des Lebens. Das habe ich im Laufe der Zeit immer klarer erkannt.

Sie sprechen auch über ihrer Ehekrise und ihre zwischenzeitliche Trennung von ihrer Frau Marie.
Auch das gehört dazu. Eine Beziehungskrise wie sie fast jeder kennt. Am Ende spürt man, dass man trotz allem zusammengehört und gemeinsam alt werden möchte.

Das sind Sie ja mit 68 Jahren schon...
Freche Feststellung. Ich habe das Gefühl, mitten im Leben zu stehen. Und habe noch viele Projekte und Pläne. Von daher ist auch dieser Film nicht aus der Motivation entstanden, dass ich jetzt Bilanz ziehen möchte.

Sie klettern ja auch nach wie vor senkrecht Wände hoch?
Man darf nie aufhören an seine Grenzen zu gehen. Die Grenzen verschieben sich mit dem Alter. Aber man muss sie immer wieder ausloten. Und man muss das tun, worauf man Lust hat. Solange man lebt.

Über Ihre Mutter erfährt man im Film eher weniger.
Sie stammt aus Brig, das war für uns Andermatter Flachland. Sie ist keine richtige Berglerin und hat sich mit dem Schnee auch nie richtig angefreundet. Sie lernte mich die normalen Dinge im Leben. Ordnung halten, anständig sein. Und Tanzen. Das hat sie mir sehr früh beigebracht. Walzer, Tango, alles.

Wie werden die Leute auf diesen Film reagieren?
Mitleid mit mir muss niemand haben. Bei mir überwiegt die Dankbarkeit. Ich habe und darf ein unheimlich intensives Leben führen. Ich glaube, das kommt auch bei diesem Film durch. Und die Rückschläge gehören einfach dazu. Darum bin ich überzeugt, dass die Leute nicht an Bernhard Russi denken, wenn sie diesen Film gesehen haben. Sondern an ihr eigenes Leben. Und das ist für mich ein schöner Gedanke.

Ein schönes Schlusswort.
Das Schlusswort ist ein anderes. Was mich nie loslässt und vielleicht etwas mit meiner Geschichte zu tun hat: Ich bin auch etwas ängstlich geworden. Und habe immer wieder das beklemmende Gefühl, dass irgendjemandem aus meiner Familie etwas zustossen könnte. Auch bei den Skirennen mache ich mir viel mehr Sorgen als zu meiner Aktivzeit. Hoffentlich passiert nichts Schlimmes. Das geht mir immer wieder durch den Kopf. Da wäre ich gerne etwas gelassener.

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