Von hier oben überblickt man das halbe Wallis. Die Sonne brennt heiss vom Himmel, die Pergola spendet wohltuenden Schatten. Karin Seewer-Roten (49) tischt einen Walliser Teller auf, dazu serviert sie Butterbrote und eine Flasche des hauseigenen Weissweins.
Gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Jörg Seewer und der gemeinsamen Tochter Colette (12) geniesst sie den Zmittag. Die Pergola steht mitten in den Rebbergen oberhalb von Leuk. «Ich fühle mich angekommen», erzählt die ehemalige Spitzensportlerin, die auch die Tiefen des Lebens kennengelernt hat. «100 Prozent perfekt gibt es nicht. Diese Erwartung habe ich losgelassen. Gut ist gut genug.»
Als Karin Roten ist die heute 49-Jährige eine der besten Skirennfahrerinnen ihrer Zeit. Drei WM-Medaillen, zwei Weltcupsiege und mehrere Podestplätze holt sie in den 1990er-Jahren. Daran erinnert heute nur noch der Medaillenschrank in ihrem Zuhause im Feriendorf Taschonieren, das über den Rebbergen von Varen gelegen ist. Nach 20 Jahren im luzernischen Beromünster ist sie jetzt in ihre Walliser Heimat zurückgekehrt.
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Gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet sie die Weinkellerei Leukersonne in Susten. 28 Qualitätsweine stellt das Paar her, darunter die typischen Walliser Spezialitäten Cornalin und Petite Arvine sowie Dôle, Fendant, Chardonnay, Merlot oder Pinot noir. Ihre neueste Kreation ist die rote Assemblage Courage. Ein Wein, dessen Name zum Ausdruck bringt, was Karin und Jörg immer wieder in ihrem Leben brauchten: Mut.
Rebberge statt Schneehänge
Von der Skirennfahrerin zur Winzerin, zum Glück auf Umwegen. Karin Seewer-Roten lacht. «Ich hatte schon immer viel mit Wein zu tun. Als Walliserin sowieso. Bereits mein erster Freund hatte eine Weinvertretung.» Natürlich habe sie von der Herstellung keine Ahnung gehabt. «Es war alles Learning by Doing. Wobei ich eher für das Büro verantwortlich bin.» Ihr Mann Jörg (56) steckt sie mit seiner Leidenschaft für Reben und edle Tropfen an. Seine Passion ist unverkennbar: «Die Qualität der Weine entsteht zu einem grossen Teil im Weinberg. Deshalb bewirtschaften wir unsere rund 20 Hektaren Reben zwischen Gampel und Saillon alle selbst.»
Kennengelernt haben sich die beiden vor 14 Jahren allerdings bei Karins Leidenschaft – dem Skifahren. Mit den beiden Söhnen aus ihrer ersten Ehe war sie damals in Leukerbad auf der Piste unterwegs, wollte eben eine Mittagspause einlegen. «Da hat einer direkt vor meinen Ski abgebremst. Das war Jörg», erinnert sie sich. «Wir haben früher sogar im gleichen Klub geturnt», ergänzt Jörg Seewer. Karin lacht: «Ich war viel zu jung, ich bin sieben Jahre jünger als er, damals hat er mich nicht interessiert.» – «Ich sehe sie noch, wie sie als junges Mädchen, flankiert von ihren Brüdern, in die Turnhalle läuft. Ich wusste, dass sie gut Ski fährt, habe ihre Skikarriere mitverfolgt.» Nach der Begegnung auf der Skipiste tauschten sie zwar Nummern aus, blieben in Kontakt, doch es dauerte, bis sie als Paar zueinanderfanden.
Es brauchte Mut. Die Voraussetzungen waren denkbar schwierig: Karin ist getrennt, hat zwei Söhne im Primarschulalter. Jörg hat eine Teenie-Tochter aus erster Ehe und einen kleinen Sohn aus einer weiteren Beziehung. Gemeinsam bekommen sie Töchterchen Colette. Patchwork at its best. Beide erinnern sich gern an die chaotischen Anfänge ihrer Beziehung zurück. «Ich hatte einen Siebenplätzer, und dieser war bis auf den letzten Platz gefüllt», erzählt Jörg Seewer. «Wir sind immer aufgefallen, wenn wir irgendwo aufgetaucht sind. Fünf Kinder zwischen Neugeborenem und 16-jährigem Teenie.» – «Das hat uns aber auch sehr zusammengeschweisst», ergänzt Karin Seewer-Roten.
Das Patchworkkonstrukt funktioniert bis heute. Karin pendelte mit Töchterchen Colette zwischen Beromünster und dem Wallis, bis Colette eingeschult wurde. Damals standen ihre Söhne kurz vor dem Lehrabschluss, brauchten ihr Mami nicht mehr jeden Tag. Karin kehrte heim. «Wenn ich in Luzern bin, vermisse ich das Wallis. Wenn ich im Wallis bin, vermisse ich Luzern.»
Zu ihren Söhnen hat sie eine enge Beziehung. Jonathan und Ivan sind heute 25 und 23 Jahre alt, stehen fest im Leben, arbeiten, sind sportlich wie die Mama. Auch Jörgs Kinder sind ihr ans Herz gewachsen. Nesthäkchen Colette ist zwölf, besucht nach den Sommerferien die Oberstufe. Wie ihr Mami liebt sie das Skifahren, fährt ab und zu ein Rennen. «Allerdings ist sie eher die Teammanagerin, die gute Seele, die das Team zusammenhält. Und nicht die, die Medaillen gewinnt», sagt Mami Karin. «Das ist für sie aber überhaupt kein Problem.»
Bewegungsmensch ist Karin Seewer-Roten geblieben. Biken, Trailrunning und im Winter Touren mit den Ski oder Langlaufski stehen fest auf ihrer To-do-Liste. Vom Skifahren habe sie lange Zeit eine Überdosis gehabt, sagt sie. Nach dem Rücktritt sei sie maximal noch ab und zu mit ihren Söhnen auf der Piste gewesen. Doch heute fahre sie wieder richtig gern. «Du kannst immer noch nicht normal fahren», frotzelt Jörg Seewer. «Für mich ist das normal», gibt Karin lachend zurück.
Sie hat ihren Ehemann mit ihrer Faszination für den Langlauf angesteckt. Auch wenn es anfangs nicht danach aussah. «Ich habe ihn etwas überschätzt. Bei der ersten Tour ging es recht steil den Hang runter.» – «Das war der Wahnsinn», erinnert sich Jörg. «Ohne Kanten auf diesen schmalen Ski.» Dennoch hat es ihn gepackt, er fing auch an, die Latten selbst zu präparieren. «Ich habe also noch immer einen Servicemann», sagt Karin. «Sie ist einfach viel fitter als ich», weiss Jörg. «Manchmal mache ich ihr deshalb den einfacheren Wachs drauf. Und mir den etwas schnelleren.»
Neues, positives Denken
Diese Lebensfreude ist für die ehemalige Skirennfahrerin nicht selbstverständlich. Wer Interviews aus ihrer Vergangenheit liest, weiss: Sie musste viel aufarbeiten. Essstörungen, Depressionen, Negativschlagzeilen. Sie möchte nicht mehr darüber definiert werden. «Ich musste sehr viel an mir arbeiten. Heute habe ich ein stabiles Umfeld, einen sehr geerdeten Mann.» Das Patchworkleben sei oft eine Herausforderung gewesen, habe ihr jedoch auch Kraft gegeben. «Mein ganzes Denken hat sich von dieser Negativspirale wegbewegt. Ich konnte auch in schlechteren Zeiten wieder Freude spüren.»
Die Walliserin blickt ohne Wehmut auf ihre Skikarriere zurück. «Ich werde noch hin und wieder erkannt, das schätze ich sehr. Heute ist es in einem Ausmass, wo ich das geniessen kann.» Sie würde den Weg als Spitzensportlerin wieder so gehen, resümiert sie. «Es war eine strenge, intensive Zeit. Ich bin stolz auf alles, was ich erreicht habe, und trauere nichts nach, was ich nicht erreicht habe.» Auch die Kinder sind stolz auf ihr Mami. «Früher war es ihnen eher etwas peinlich», meint Seewer-Roten lachend. «Doch heute wissen sie, dass nicht jede Mutter eine solche Vergangenheit hat.»
Spezielle Träume hat das Paar keine. Eigentlich wollten sie sich ein Wohnmobil kaufen. «Die Weinkellerei ist das Wichtigste. Deshalb haben wir uns stattdessen eine neue Weinabfüllanlage angeschafft», sagt er. Die Leukersonne ist ihr Traum, hier wollen sie alle Zeit und Energie investieren. «Wir wünschen uns, dass eine weitere Generation das Unternehmen in einem guten Zustand übernehmen kann.»