Darum gehts
- Alfonsina Strada: Erste Frau beim Giro d'Italia der Männer 1924
- Trotz Beschimpfungen und Stürzen kämpfte sie sich bis ins Ziel
- Von 89 Startern beendeten nur 39 Fahrer, darunter Strada, das 3613 Kilometer lange Rennen
Zu Beginn wurde sie als Nutte, Hündin und Irre beschimpft. Und am Ende als Heldin gefeiert. Alfonsina Strada (1891–1959) war die erste und einzige Frau, die je beim Giro d’Italia der Männer mitfuhr. 101 Jahre ist dieses spezielle Kapitel der Italienrundfahrt alt. Erzählenswert ist es dennoch, weil die Bauerntochter aus Norditalien die Art, wie viele Menschen über Frauen dachten, veränderte.
Die Autorin Simona Baldelli hat im Buch «Die Rebellion der Alfonsina Strada» die Geschichte der veloverrückten Bauerntochter erzählt. Ob alle darin enthaltenen Beschreibungen rund um Strada sich genau so abspielten, ist nicht klar. Es gibt andere, leicht abweichende Berichte. Entscheidend ist das nicht.
Wir drehen das Rad der Zeit zurück und beginnen an jenem Tag, an dem Historisches geschieht. Es ist Samstag, der 10. Mai im Jahr 1924. Die erste Giro-Etappe steht kurz bevor. Um 4:40 Uhr morgens stehen 89 Männer in Mailand parat. Und eine Frau – eben Alfonsina Strada.
Ihre Klasse auf dem Velo ist unbestritten. Mit zehn sass sie erstmals auf einem Drahtesel, fuhr und gewann viele kleinere Rennen – gegen Frauen praktisch stets, gegen Männer immer wieder. Und das, obwohl die Voraussetzungen nicht gut waren.
Warum? Strada ist Tochter eines Tagelöhners und einer Amme, sie hat zehn Brüder und musste als Kind schon nach zwei Jahren die Schule abbrechen, um Geld für den Familienunterhalt zu verdienen. Sie tat es als Schneiderin. Ihre grosse Liebe gehört aber dem Radsport – in jeder freien Minute fährt sie Velo.
Ein Schreibfehler bringt alles ins Rollen
Mittlerweile ist Strada 32 Jahre und steht kurz davor, beim Giro zu starten, obwohl das Rennen nur für Männer zugelassen ist. Man fragt sich: Wie geht das? Einfach: Bei der Anmeldung gibt sie sich als «Alfonsin Strada» aus. Die Verantwortlichen glauben an einen Schreibfehler und machen «Alfonsino Strada» draus – ein weiterer Mann also.
Die Panne passt zur chaotischen Giro-Ausgabe 1924. Der Hintergrund: Stars wie Ottavio Bottechia und Alfredo Binda weigern sich, an der Rundfahrt teilzunehmen – sie wollen mehr Kohle. Giro-Boss Emilio Colombo von der «Gazzetta dello Sport» lehnt ab und öffnet, um seinen Event zu retten, das Rennen für jedermann. An eine Frau dachte er dabei natürlich nicht. Strada nutzt die Chance und hat mit ihrem «neuen» Namen Glück. Doch als sie ihre Startnummer abholt, fliegt sie auf. Alfonsino Strada ist gar kein Mann! Colombo ist zunächst wütend, beruhigt sich dann und findet, eine Frau passe perfekt in diesen «Giro der Erneuerung» – heute würde man von einem echten PR-Coup sprechen.
Einige lachen und viele lästern über sie
Strada darf also starten. Auf Zuneigung stösst sie allerdings nicht. Sie wird wegen ihrer Kurzhaarfrisur und Muskeln von den Zuschauern ausgelacht oder beschimpft – als «puttana», also als Nutte. Die Meinung ist gemacht: Eine Frau hat bei einem Rennen über 12 Tagen und 3613 Kilometern nichts zu suchen.
Es sei doch eigentlich so, wie ihr eigener Bruder einst formulierte: «Frauen sind dazu da, zu gehorchen, sich ums Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und sich Hörner aufsetzen zu lassen.» Und siehe da: Schon auf der ersten, 300 Kilometer langen Etappe nach Genua stürzt Strada und verletzt sich. «Das wars», denken die meisten.
Doch weit gefehlt! Strada gibt nicht auf. Sie kämpft sich Stunde für Stunde und Tag für Tag durch und bleibt stets innerhalb Zeitlimit. Die Strapazen sind dennoch enorm – auch, weil sie abends noch ihr Rad reparieren und reinigen muss.
Der «Diavolo in Gonnella» gibt nicht auf
Beim achten Teilabschnitt scheint Stradas Schicksal besiegelt. Es regnet, die Strassen sind nass und schlammig – sie stürzt immer wieder. Irgendwann bricht ihr Lenker. Strada sitzt am Strassenrand und weint. Eine alte Frau bemerkt dies und holt bei einem Bauernhof einen Besenstiel (vielleicht war es auch eine Heugabel), bricht ihn in zwei Hälften und bindet ihn mit einer Schnur an Gabelkrone und Rahmen fest.
Strada befestigt die Bremsen und fährt weiter, erreicht das Ziel aber nach dem Kontrollschluss. Giro-Organisator Colombo müsste sie disqualifizieren. Doch er tut es nicht. Der Grund: Die «Rad-Schlampe» hat mit ihrer Leidenschaft und ihrem Kampfgeist die Herzen der zu Beginn feindseligen Tifosi erobert. Nun wird Strada nicht mehr beschimpft, sondern bewundernd als «diavolo in gonnella» (Teufel im Rock) bezeichnet.
Wenige Tage später erreicht Strada tatsächlich das Ziel in Mailand – sie ist 28 Stunden langsamer als Sieger Giuseppe Enrico, aber eine von 39, die den Giro überhaupt beenden. «Eine unglaubliche Leistung – und das von einer Frau!», denken nicht wenige.
Sie erlebte nie Gleichberechtigung, aber ...
1959 stirbt Strada nach einem Unfall mit dem Motorrad. Sie ist dank ihres Giro-Husarenritts zwar berühmt, aber nicht reich geworden. Und echte Gleichberechtigung hat sie sowieso nie erfahren.
Dennoch inspirierte Strada Millionen Menschen. Und wenn der Frauenradsport – es gibt den Frauen-Giro seit 1988 – heute so prominent ist wie noch nie, liegt das auch an ihr. Strada, die Rad-Pionierin mit dem grossen Kämpferherz, hat dafür den Grundstein gelegt.