Es sind andere, die für die ganz dicken Schlagzeilen sorgen. Nadine Riesen (25), die gegen Norwegen mit dem 1:0 den Funken zündet. Géraldine Reuteler (26), die dreimal zur besten Spielerin gewählt wird. Alayah Pilgrim (22) und Leila Wandeler (19), die nach dem Sieg gegen Island tanzen. Oder Riola Xhemaili (22), die das ganze Land mit dem 1:1 gegen Finnland in der Nachspielzeit in Ekstase versetzt. Und trotzdem steht eine über allen: Lia Wälti (32).
Seit Jahren ist sie die beste Fussballerin der Schweiz. Doch was Wälti an dieser EM in Sachen Wille, Kampfgeist und Mentalität abliefert, ist schlicht: Wahnsinn. Trotz gesundheitlicher Probleme beisst sie sich durch. Gegen Norwegen führt sie eine knappe Stunde lang magistral Regie, auch gegen Island leitet sie das 1:0 ein, und gegen Finnland treibt sie das Team unermüdlich an, bis nach 98 Minuten der Schlusspfiff alle erlöst.
«Sie macht einen phänomenalen Job», sagt Nati-Trainerin Pia Sundhage (65). «Ich kenne keine, die härter arbeitet», sagt Noelle Maritz (29). Und Ana-Maria Crnogorcevic (34) ergänzt: «Lia geht voran – auf und neben dem Platz. Egal, was für Steine ihr in den Weg gelegt werden.»
Mehr Lob geht nicht. Mehr Aufopferung auch nicht, denn Lia Wälti ist ein Captain auf Mission. Für sie geht es um weit mehr als «nur» um eine weitere Endrunde, ihr fünftes grosses Turnier. Für sie geht es hier, im eigenen Land, um das Vermächtnis für die nächste Generation. Wälti ist nicht nur Captain und Spielmacherin der Nati. Sie ist auch Botschafterin, Vorbild, Wegbereiterin. Auf dem Platz kämpft sie nicht nur um Punkte, sondern auch für mehr Sichtbarkeit, Anerkennung und Chancengleichheit.
«Es ist wichtig, dass man seine Stimme nutzt», sagte Wälti im März, als Blick sie in London besuchte. Und ihre Stimme nutzt sie rund um diese EM mehr denn je. Schon Monate vor dem Turnier ist sie die Protagonistin einer SRF-Doku, spricht bei «Gredig direkt», gibt Interviews, ist dank ihrer Persönlichkeit und Eloquenz beliebt bei Partnern und Sponsoren. Sie schreibt ein Kinderbuch und absolviert nebenbei einen Bachelorstudiengang in Betriebsökonomie und Sportmanagement, für den sie zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel noch Prüfungen ablegt. Lia hier, Lia da, Lia überall.
Ein Jahrzehnt Weltklasse
Der Stern von Wälti ging 2015 in Vancouver auf: WM in Kanada, die Schweiz erstmals mittendrin statt nur dabei. Die Stars hiessen Ramona Bachmann und Lara Dickenmann, doch die eigentliche Entdeckung des Turniers war Wälti. Zwar spielte die Emmentalerin auf der ungeliebten Position der Innenverteidigerin, doch Martina Voss-Tecklenburg attestierte ihr bereits da: «Lia hat das Potenzial zur Weltklasse.»
Die ehemalige Nati-Trainerin sollte recht behalten. Nach insgesamt fünf Jahren in Potsdam wechselte Wälti 2018 zu Arsenal, wurde Meisterin und in das Team der Saison gewählt. In der Nati wurde sie zur wichtigsten Figur, auf dem Feld als defensive Schaltzentrale schlicht unersetzbar. 2019 übernahm sie die Captainbinde und ist endgültig zum Gesicht des Frauenfussballs in diesem Land geworden.
Der Höhepunkt folgt sechs Jahre später: die EM im eigenen Land, nachdem Wälti wenige Wochen zuvor mit dem Gewinn der Champions League mit Arsenal bereits ihre Klubkarriere gekrönt hat. Dieses Heimturnier – es überstrahlt alles. Doch für Wälti beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, wie so oft vor grossen Turnieren. Dass sie körperlich eine ihrer schwierigsten Phasen durchmacht, trägt sie nicht prominent nach aussen.
Aufgeben ist keine Option
Die Leiden der Lia Wälti werden aber sichtbar. Das Knie ist dick einbandagiert, gegen Norwegen auch der Oberschenkel. Doch sobald die Nationalhymne ertönt, sind die Schmerzen weg. Sagt sie selbst. «Es ist krass, was Adrenalin mit einem macht», so Wälti, die Grenzen verschiebt.
Aufgeben ist keine Option. Das sagt auch die Schweizer Buchautorin Shqipe Sylejmani (37), die bei der Herausgabe des Kinderbuchs «Lia am Ball» Wälti beraten hat. «Auch wenn ich Lia gewarnt habe, wie schwierig und hart diese Branche ist, Lia hat nie gezweifelt.» Ähnlich tönt es von Wältis Schwester Meret: «Wenn ich zwischendurch einmal gezweifelt habe, sagte Lia immer, es komme schon gut.» Beharrlichkeit hat Lia Wälti schon immer ausgezeichnet.
Auch Meret Wälti leidet mit. Besonders weil Lia angeschlagen ist. Die beiden stehen sich sehr nah, auch wenn sie charakterlich unterschiedlich sind. Ihre grössere Schwester beschreibt sie als «sehr zuverlässig, offen, grosszügig, motiviert und ambitioniert». Manchmal sei sie ein «Jufli» und wolle alles schnell, schnell machen. Lia habe aber durchaus auch eine «Goofy»-Seite. «Sie kann schon auch mal herumblödeln und nicht so seriös sein, was man in der Öffentlichkeit natürlich nicht so sieht.»
Leaderin, Vorbild, Inspiration
Das Buch ist ein Herzensprojekt der beiden und hat vor allem ein Ziel: Sichtbarkeit schaffen, inspirieren, Vorbild sein. Und jungen Mädchen die Botschaft mitgeben: Seid mutig und verfolgt eure Träume! Wälti will erreichen, was ihr als Kind verwehrt geblieben ist. Weibliche Vorbilder zu haben und davon träumen zu können, Profifussballerin zu werden.
Wälti selbst hat in jungen Jahren lange daran gezweifelt, einmal Profi zu werden. «Obwohl sie als einziges Mädchen mit uns bei der U16 von YB war», sagt Dean Addo (30). «Erst als sie konkrete Angebote aus dem Ausland bekam, merkte sie, wie gut sie wirklich ist.» Seit gemeinsamen Zeiten bei Bern West ist Addo mit Wälti befreundet. «Sie ist sich selbst geblieben: bodenständig und eine starke Persönlichkeit. Und wenn sie etwas will, dann macht sie es auch.»
Lia Wälti wollte diese EM. Unbedingt. Und zwar als Spielerin auf dem Platz. Trotz der Schmerzen im Knie führte sie am 2. Juli die Nati im ausverkauften St. Jakob-Park und vor mehr als einer Million TV-Zuschauern aufs Feld. Die Augen sind wässrig, als Beatrice Egli den Schweizerpsalm singt. Es ist nicht das letzte Mal, dass die Emotionen den Nati-Captain übermannen. «Mir schiessen immer wieder Tränen in die Augen.» Allein vor dem Spiel gegen Island in ihrer Heimat Bern dreimal.
Wältis Willen hat Berge versetzt. Aber all die Stunden, all die Schmerzen, all das Leiden haben sich gelohnt. Der Plan ist aufgegangen. «Es ist absolut das Schönste und Intensivste, was ich bisher auf dem Platz erlebt habe», sagt sie nach dem Hitchcock-Final gegen Finnland. Doch ihre Mission ist noch nicht zu Ende. Am Freitag wartet Weltmeister Spanien. «Wir gewinnen 1 von 100 Spielen», sagt Wälti. «Aber dieses wollen wir im Viertelfinal einziehen.» Wie man Grenzen verschieben kann, hat sie an diesem Turnier eindrücklich gezeigt.