«Ich habe eine Wette mit Arno abgeschlossen – dann liefs»
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Niederreiter über Winnipeg:«Ich habe eine Wette mit Arno abgeschlossen – dann liefs»

Geisteskranker zückte die Waffe
Niederreiter rannte in Winnipeg um sein Leben

Winnipeg hat von sämtlichen Stationen in der NHL den schlechtesten Ruf. Die Heimat der «Jets» wird in der weltbesten Eishockey-Liga sogar als Straflager bezeichnet. Zu Recht? Ein Besuch beim Neo-Winnipeger Nino Niederreiter soll diese Frage beantworten.
Publiziert: 27.11.2023 um 17:23 Uhr
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Aktualisiert: 28.11.2023 um 08:13 Uhr
Die Zustände in Winnipeg stimmen Nino Niederreiter nachdenklich.
Foto: Sven Thomann
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Mit Vancouver (Rang 5), Calgary (7) und Toronto (8) fungieren gleich drei kanadische Metropolen in den Top 10 der lebenswertesten Städte der Welt. Winnipeg kommt im Ranking der britischen «Economist»-Gruppe aber nicht in die Kränze. Dass die Hauptstadt von Manitoba keiner paradiesischen Destination gleichkommt, lässt auch das Liedgut des einheimischen Musikers Venetian Snares erahnen. Der Hardcore-Techno-Produzent komponierte einen Song mit dem Titel «Winnipeg Is a Frozen Shithole» (zugefrorenes Dreckloch). 

Im falschen Film

Nino Niederreiter ist seit neun Monaten einer von rund 780'000 Einwohnern in dieser Stadt am Red River. Der Churer macht kein Geheimnis daraus, dass er sich nach seinem Transfer von den Nashville Predators zu den Winnipeg Jets im ersten Moment wie im falschen Film vorkam. «Im Hollywoodklassiker ‹Cool Runnings› gibt es die legendäre Szene, in der das Bobteam aus Jamaika nach der Landung am Flughafen Calgary aufgrund der eisigen Kälte in Schockstarre verfällt. So ähnlich erging es mir, als ich bei ungefähr minus 30 Grad hier ankam!»

Weil zeitweise sogar minus 50 Grad gemessen werden, liegt Winnipeg in der Rangliste der kältesten Ortschaften der Welt hinter Oimjakon (Sibirien), Astana (Kasachstan) und Ulan-Bator (Mongolei) an vierter Stelle. Als SonntagsBlick in der zweiten Novemberhälfte im Zentrum der kanadischen Prärie landet, zeigt das Thermometer völlig unerwartet plus sechs Grad. Niederreiter vermutet in diesem sonnigen Augenblick, «dass sich der Klimawandel auch auf Winnipeg auswirkt». 

Hier ist der Tod allgegenwärtig

Aber nur ganz kurz. 24 Stunden später herrschen die üblichen Minusgrade. Niederreiter fährt mit uns der Waterfront Street entlang. Sein Dienstwagen ist gut geheizt. Trotzdem läuft es den Berichterstattern aus der Schweiz bei der ersten Sightseeingtour eiskalt den Rücken hinunter.

Hier suchen am Flussufer unzählige Obdachlose in rudimentären Zelten Schutz vor der brutalen Kälte. Andere haben mit Planen den Unterstand einer Bushaltestelle in ein Wohnzimmer umfunktioniert. Kein Wunder, ist der Tod in dieser Umgebung allgegenwärtig. «Mein Konditionstrainer Michi Bont sah in dieser Gegend im letzten Winter aus der Distanz einen am Strassenrand liegenden Mann, der ziemlich sicher erfroren war», erzählt Niederreiter.

In einem Park auf der anderen Strassenseite dröhnen sich Randständige mit Alkohol und harten Drogen zu. Diese Szenerie fährt dem grossherzigen Eishockey-Star aus dem Bündnerland heftig ein. «Fahre ich hier durch, befällt mich ein Gefühl der Machtlosigkeit. Eigentlich möchte ich diesen Menschen, die häufig aus einem Indianer-Reservat im Norden stammen, helfen. Aber ich weiss nicht wie. Wenn ich einem dieser Obdachlosen 100 Dollar gebe, wird er das Geld kaum für eine warme Decke oder Esswaren ausgeben. Er wird sich eher Drogen und Alkohol kaufen. Damit ist das Problem definitiv nicht gelöst.» 

Del Curtos Überraschungsbesuch brachte die Wende

Dass Winnipeg auch eine makellose Facette hat, wird im 24. Stock eines Wolkenkratzers an der Carlton Street ersichtlich. Hier bewohnt der Schweizer NHL-Rekordtorschütze, knapp fünf Gehminuten von der Eishockey-Arena entfernt, ein schmuckes Apartment mit einem spektakulären Blick auf die Stadt. An den Wänden hängen Bilder von Paul Peterson, einem Künstler, den Nino in seiner Zeit bei Minnesota Wild (2013–2018) kennengelernt hat. «Kunst hat mich schon früh fasziniert. Ich wollte ursprünglich Kunstschlosser werden. Heute investiere ich in junge Künstler in der Hoffnung, dass sie sich eines Tages als die neuen van Goghs oder Picassos entpuppen.» 

Ungekünstelt, mit einer robusten Spielweise verdient Niederreiter auf dem Eis sehr ordentlich. Vier Millionen US-Dollar kassiert er aktuell als linker Flügel bei den Winnipeg Jets. Weil sein Kontrakt im Frühling ausläuft, steht der 31-Jährige in dieser Saison besonders unter Druck. In 19 Spielen hat er mit 14 Skorerpunkten aber gute Werbung für eine Vertragsverlängerung gemacht.

Nach einem mässigen Saisonstart ist bei Nino der Knoten auch dank einer unerwarteten Begegnung geplatzt. «Vor unserem neunten Saisonspiel in Montreal hatte ich erst ein Tor auf dem Konto. Dann begegnete mir vor dem Match gegen die Canadiens am Frühstücksbuffet zufällig mein ehemaliger Trainer Arno Del Curto. Er weilte auf Einladung von Bibi Torrianis Grosssohn, der in Montreal ein Luxushotel führt, in Kanada. Ich hatte ein langes, wunderbares Gespräch mit Arno. Das tat mir unglaublich gut. Zumal mir Arno eine Extraprämie von 100 Euro versicherte, wenn ich in diesem Spiel ein Tor und einen Assist verbuche.»

Weil Niederreiter ein prächtiges Backhand-Goal sowie einen Assist erzielte, musste Del Curto tatsächlich seinen Geldsäckel zücken. Drei Spieltage später gelang dem zweifachen WM-Silbermedaillengewinner gegen Arizona gar der dritte Hattrick seiner NHL-Laufbahn.

Heimeliges Gefühl in der Garderobe

Dass sich der einstige HCD-Junior in Winnipeg immer wohler fühlt, verdankt er auch dem dänischen Nationalspieler Nikolaj Ehlers (27). Der Sohn der Trainer-Legende Heinz Ehlers (57) sitzt in der Jets-Garderobe unmittelbar neben Nino. «Nikolaj ist ein begnadeter Hockeyspieler und ein ganz feiner Mensch. Er hat mir hier mit seiner Erfahrung von neun Jahren Winnipeg den Start enorm erleichtert. Und weil er einen grossen Teil seiner Jugend in der Schweiz verbrachte, kann ich mich mit ihm sogar auf Schweizerdeutsch unterhalten.»

Das geniesst auch 6-Millionen-Mann Ehlers: «Nino gibt mir hier ein Gefühl von Heimat. Und für das Team ist er mit seinem kampfbetonten Spielstil Gold wert. Die Formation mit Nino, Masson Appleton und Adam Lowry ist in meinen Augen eine der kompaktesten Linien in der NHL.» Deshalb glauben in dieser hockeyverrückten Region immer mehr Fans an den ersten Stanley-Cup-Triumph in der Jets-Geschichte.

Auch Niederreiter spürt, dass sich hier etwas ganz Besonderes entwickeln kann und stimmt ein Loblied auf die Vereinsführung an: «Die Verantwortlichen im Klub wissen, dass Winnipeg als Stadt nicht den besten Ruf geniesst. Deshalb betreiben sie einen besonders grossen Aufwand, damit sich die Spieler hier wohlfühlen. Das ist ihnen in meinem Fall gelungen. Auch weil ich bei keinem anderen NHL-Team so gut gegessen habe. Zudem gehören unsere Fans zu den besten der Liga. Die Leidenschaft fürs Eishockey ist hier riesengross.»

Der grosse Schock

Aber eben: Leidenschaft und Leidensfähigkeit sind in dieser Region besonders eng miteinander verknüpft. Das bekam Niederreiter vor ein paar Wochen in heftigster Manier bei einem Jagd-Ausflug zu spüren. «Mangels Freizeit-Alternativen hielt ich wieder mal Ausschau nach einem kapitalen Hirsch. Aber ich habe den Hochsitz bereits nach relativ kurzer Zeit wieder verlassen. Aufgrund der eisigen Temperaturen waren meine durchgefrorenen Finger nicht mehr in der Lage, einen Platt-Schuss abzufeuern ...»

Ausserhalb der Eishalle lebt Niederreiter in Winnipeg oft wie im goldenen Käfig. Vor allem am Abend. «Es gibt in dieser Stadt einige Bezirke, die man in der Dunkelheit meiden sollte.» Wie gefährlich Winnipeg by Night sein kann, erlebte der Eisgenosse im letzten Frühling. «Ich feierte in einem Lokal in der Innenstadt mit meinen Teamkollegen den Abschluss der Saison. Alles war wunderbar. Doch kurz nachdem ich die Party verlassen hatte, wurde es dramatisch.»

Niederreiter hatte sich zu Fuss auf den Heimweg gemacht, als die restlichen Vertreter der «Jets» im Nachtclub sicherheitshalber eingesperrt wurden. Grund: In der Nähe des Lokals wurde ein offensichtlich geisteskranker Mann gesichtet, der mit einer Waffe herumfuchtelte. «Ich bekam von all dem nichts mit, bis mich ein Teamkollege anrief. Er schrie in sein Handy: ‹Lauf jetzt ganz schnell, Nino! In der Stadt rennt irgendein Idiot mit seiner Knarre herum!› Zum Glück musste ich nur noch ein paar Hundert Meter sprinten, bis ich zu Hause war.»

Ninos ganz grosse Liebe

Trotz dieser grenzwertigen Erfahrung wird Niederreiter ohne zu zögern unterschreiben, falls ihm Winnipegs General Manager im kommenden Frühling einen gut dotierten Vierjahresvertrag anbietet: «Die Organisation der Jets ist top, die Stadt trotz einigen gravierenden Problemen viel besser als ihr Ruf. Deshalb würde ich gerne hierbleiben, zumal mir hier viele Leute ans Herz gewachsen sind.»

Ninos ganz grosse Liebe wird Ende November nach Winnipeg zurückkehren. «Mein Schatz Cecilia arbeitet hauptsächlich in Zürich. Zum Glück kann sie diverse berufliche Aufgaben im Homeoffice erledigen. Deshalb kommt sie immer wieder für ein paar Wochen zu mir. Cecilia meistert das alles ganz grossartig, ich bin sehr stolz auf sie.» Fazit: Mit der bezaubernden Cecilia Schuler an der Seite fühlt sich Niederreiter auch auf dem härtesten Pflaster der NHL pudelwohl.

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