Börsen-Schock bei Nahrungsmittelkonzern
Bei Nestlé ist der Verwaltungsrat die wahre Problemzone

Paul Bulcke, der Verwaltungsratspräsident von Nestlé, gerät mit dem Rauswurf von Laurent Freixe selbst unter Druck. Und mit ihm das oberste Führungsgremium, das dringend erneuert werden muss.
Publiziert: 15:36 Uhr
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Laurent Freixe (l.) sei der «perfect fit», sagte Nestlé-Präsident Paul Bulcke vor einem Jahr. Eine Fehleinschätzung.
Foto: William Gammuto

Darum gehts

  • Nestlé-Aktienkurs sinkt, Vertrauen ist erschüttert nach Entlassung des Konzernchefs
  • Paul Bulcke tritt als Verwaltungsratspräsident ab, Nachfolger ist Pablo Isla
  • Schweizer Pensionskassen haben 11 Milliarden Franken in Nestlé investiert
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Beat SchmidFester Mitarbeiter Blick

Mit weniger als 200 Milliarden Franken ist Nestlé an der Börse derzeit noch bewertet. Zwar hat sich der Kurs nach dem Taucher am Montag wieder erholt. Doch die fristlose Entlassung von Konzernchef Laurent Freixe (63) untergräbt das ohnehin angeschlagene Vertrauen in den weltgrössten Nahrungsmittelkonzern weiter. Im Jahr 2022 war der Multi vom Lac Léman 280 Milliarden wert. Jetzt notieren die Aktien so tief wie seit 2017 nicht mehr.

Das spüren viele Schweizerinnen und Schweizer in ihrem Portemonnaie. Sie sind indirekt über ihre Pensionskasse Aktionäre von Nestlé. Das Debakel bedeutet für sie einen direkten Einschnitt in die Rendite. Nestlé gilt als die Renten-Aktie schlechthin und macht 4,3 Prozent in einem durchschnittlichen Aktienportfolio einer Vorsorgeeinrichtung aus, wie im diese Woche veröffentlichten «Pensionskassen-Jahrbuch» des Beratungsunternehmens PPCmetrics nachzulesen ist. 

Vom kumulierten Anlagevermögen von 909 Milliarden Franken haben Schweizer Pensionskassen 1,3 Prozent oder 11 Milliarden in Nestlé investiert – keine Aktie hat ein derart hohes Gewicht. Bei total 4,2 Millionen Versicherten macht das 2666 Franken pro Person aus. Das entspricht 35 Nestlé-Aktien. Ein Einbruch um 40 Prozent macht sich also durchaus bemerkbar.

Paul Bulcke soll sofort gehen

Hauptverantwortlich für den Niedergang ist Paul Bulcke, der Verwaltungsratspräsident von Nestlé. Seit 45 Jahren steht der gebürtige Belgier im Dienst des Unternehmens. 1979 trat er in die Firma ein, durchlief zahlreiche Stationen, 2004 wurde er Vize-CEO und anschliessend CEO. 2017 folgte er Peter Brabeck (80) als Präsident des Verwaltungsrats nach. Morgen Montag feiert Bulcke seinen 71. Geburtstag.

Eine grandiose Karriere, die nun auf den letzten Metern zu scheitern droht. Im April wird er als Verwaltungsratspräsident abtreten, sein Nachfolger ist der heutige Vizepräsident Pablo Isla (61). Es werden bittere Monate für den langjährigen Lenker. Stimmen am Kapitalmarkt fordern den vorzeitigen Rücktritt: «Der muss weg, und zwar sofort», sagt ein Portfoliomanager. An seiner Reputation nagt, dass immer noch Unklarheit darüber herrscht, wann genau Bulcke über die Affäre informiert war und ob er rechtzeitig reagiert hat. 

Bulcke steht vor einem Scherbenhaufen, der in den letzten Jahren immer grösser wurde. Den grössten Fehler leistete er sich letzten September, als er CEO Mark Schneider in die Wüste schickte und Laurent Freixe zum Nachfolger bestimmte. Damals sagte Bulcke, Freixe sei ein «perfect fit» – eine Fehleinschätzung. Nicht nur wegen dessen amouröser Eskapaden, sondern auch wegen der Performance. Bulcke und Freixe vollzogen eine strategische Kehrtwende: «Forward to the basics» nannten sie die neue Stossrichtung. Mit Vollgas in die Vergangenheit hätte man sie auch nennen können. Zunächst reagierte der Aktienmarkt positiv, doch schon bald war die Luft draussen.

Navratil und Isla – das neue Gespann

Es braucht mehr, um den Tanker vom Genfersee auf Reisegeschwindigkeit zu bringen. Die Hoffnungen ruhen nun auf Philipp Navratil (49), einem Schweizer, der direkt nach dem Studium zu Nestlé ging. Viele Jahre verbrachte er in Süd- und Mittelamerika, doch seine Karriere nahm erst in den letzten Monaten Fahrt auf. Letztes Jahr wurde er CEO von Nespresso, vor acht Monaten wurde er in die Konzernleitung geholt – und jetzt ist er bereits Konzernchef. In den Auswahlverfahren startete er zunächst als Aussenseiter, doch er schaffte es, die Chefs grosser Regionen auszustechen. Etwa Amerika-Chef Jeff Hamilton (59) oder Guillaume Le Cunff (55), Chef des Europa-Geschäfts.

Navratil und Pablo Isla sind das neue Gespann, das den Riesen aus Vevey wieder an alte Erfolge heranführen soll. Isla ist Spanier, der seit 2018 im Verwaltungsrat von Nestlé sitzt. Er ist ein Outsider, der nie in einer operativen Position bei Nestlé tätig war. Ein Quereinsteiger als Präsident – das gab es in den letzten Jahrzehnten nie. Die drei Vorgänger bis zurück zu Helmut Maucher waren allesamt zuvor CEO des Konzerns.

Als langjähriger Lenker des spanischen Textilriesen Inditex (u. a. Zara, Massimo Dutti) kennt Isla das Modegeschäft in- und auswendig. Doch von Hundefutter, Kaffee und Suppenwürfeln weiss er wenig. Seine Aufgabe wird es sein, das Board umzubauen – und zu verjüngen. Dort sitzen zahlreiche in die Jahre gekommene Manager. Etwa der frühere CS-Finanzchef Renato Fassbind (70) oder der ehemalige ETH-Präsident Patrick Aebischer (70). Das Board ist mit einem Durchschnittsalter von 64,2 Jahren eines der ältesten der Schweiz.

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