Darum gehts
- Hasko Draganovic musste selber Beweise sammeln, um einen Strafbefehl zu entkräften
- Polizei ignorierte entlastende Hinweise trotzdem
- Erst das Gericht glaubte ihm
Hasko Draganovic hat Buch geführt. 721 Stunden hat der 37-Jährige herumtelefoniert, Videomaterial gesichtet, Kartenmaterial erstellt. Hat E-Mails geschrieben, Fotos gesichert, Belege zusammengesucht, das Geschehene niedergeschrieben. 721 Stunden – das sind 30-mal 24 Stunden, um seine Unschuld zu beweisen.
Im Juli 2024 hatte der selbständige Unternehmer einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Emmen LU kassiert. Sie verurteilte ihn wegen Führens eines Motorfahrzeugs in übermüdetem Zustand mit Kollisionsfolge und wegen falscher Anschuldigung zu einer bedingten Geldstrafe über 12’000 Franken und zu einer Busse – inklusive Gebühren – von 3310 Franken.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Doch der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Emmen basierte auf einer krass einseitigen Ermittlung seitens der Luzerner Polizei. Die beiden Behörden erhalten dafür den Negativpreis «Fehlbefehl 2025» des Beobachters.
Alles begann am 13. Mai 2024. Hasko Draganovic sitzt auf dem Beifahrersitz seines Autos und schläft. Am Steuer ist seine Mutter. Plötzlich touchiert sie mit dem Auto eine Lärmschutzwand. Mitten auf der A2. Sie rollen in eine SOS-Nische, atmen durch. Beide sind zum Glück unverletzt. Mutter und Sohn tauschen in der Nische die Plätze, und Draganovic fährt zur nächsten Autobahnraststätte. Er ruft die Versicherung an und dann die Luzerner Polizei. Dort gibt er aber an, einen Selbstunfall verursacht zu haben.
Warum er sich in jenem Moment selbst belastete, kann er sich heute nicht mehr erklären. «Vielleicht war es der Beschützerinstinkt. Ich stand wohl einfach unter Schock.»
Die Polizei kommt und eröffnet ihm, dass man ihm nun den Führerausweis wegnehmen werde. Draganovic will den wahren Sachverhalt klarstellen. Er sei zwar gefahren, aber nur von der SOS-Nische hierher. Den Unfall habe seine Mutter verursacht. «Die Polizisten lachten mich aus und beschimpften mich als Lügner», erinnert er sich.
Man habe ihn gefragt, was seine Muttersprache sei. Als er mit «Schweizerdeutsch» antwortete, habe der Polizist sich geweigert, das so zu vermerken. Er sei ja schliesslich albanischer Abstammung. «Das alles, während der Polizist meine Schweizer ID in den Händen gehalten hat», erzählt Draganovic im breitesten Basler Dialekt.
Am Schluss halten die zwei Beamten in ihrem Unfallrapport unmissverständlich fest, was sich aus ihrer Sicht zugetragen hat: «Herr Draganovic verursachte aufgrund eines Sekundenschlafes einen Selbstunfall und beschuldigte im Anschluss seine Mutter, gefahren zu sein.»
Dutzende von Beweisen musste er organisieren
Für Angela Agostino-Passerini ein No-Go. Sie ist Strafverteidigerin und Jurymitglied für den «Fehlbefehl 2025». «Es ist nicht Aufgabe der Polizei, einen Sachverhalt zu bewerten.» Das sei Sache der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts. «Die Polizei muss einfach ermitteln – und zwar ergebnisoffen, also in alle Richtungen.»
Seit 2022 verleiht der Beobachter den Fehlbefehl, um auf Missstände im Strafbefehlsverfahren hinzuweisen. Der Negativpreis soll Behörden und Gesetzgeber motivieren, die gesetzlichen Grundlagen des Strafverfahrens gerechter zu machen. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte können mit Hilfe von Strafbefehlen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Dieses Verfahren weist zahlreiche rechtsstaatliche Mängel auf. Der Fehlbefehl wird jährlich von einer unabhängigen Jury aus Expertinnen und Experten vergeben.
Eingereicht werden kann der Strafbefehl via fehlbefehl@beobachter.ch
Seit 2022 verleiht der Beobachter den Fehlbefehl, um auf Missstände im Strafbefehlsverfahren hinzuweisen. Der Negativpreis soll Behörden und Gesetzgeber motivieren, die gesetzlichen Grundlagen des Strafverfahrens gerechter zu machen. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte können mit Hilfe von Strafbefehlen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Dieses Verfahren weist zahlreiche rechtsstaatliche Mängel auf. Der Fehlbefehl wird jährlich von einer unabhängigen Jury aus Expertinnen und Experten vergeben.
Eingereicht werden kann der Strafbefehl via fehlbefehl@beobachter.ch
Doch das sind diese Ermittlungen nicht. Polizei und Staatsanwaltschaft stützen sich nur auf die Selbstbeschuldigung nach dem Unfall. In keiner Weise versuchen sie, herauszufinden, ob sich der Unfall vielleicht nicht doch so abgespielt hat, wie Draganovic es beharrlich schildert.
Sogar Videos von der Raststätte angefordert
Gegen ihn wird ein Strafbefehl ausgesprochen. Er erhebt Einsprache. Danach wird er zum ersten Mal vom Staatsanwalt einvernommen. Dieser hält am Strafbefehl fest. Doch Hasko Draganovic hat Beweise für seine Unschuld.
Da wären zum Beispiel die Videoaufzeichnungen einer Raststätte, in denen man erkennen kann, dass die Mutter nach einer WC-Pause auf der Fahrerseite einsteigt. Draganovic hatte die Raststätte selbst angeschrieben und um die entsprechenden Bilder gebeten. In einem ersten Schritt konnte man ihm die Aufzeichnungen aus Datenschutzgründen zwar nicht aushändigen. Man sicherte das Videomaterial aber schon mal präventiv auf einem USB-Stick. Denn: Zwei Tage nach seinem Anruf wäre das Videomaterial gelöscht worden.
Die Polizei ihrerseits legte eine wenig aussagekräftige, gekürzte Sequenz des Videos zu den Akten. Darin sah man zwar, wie die Mutter auf der Fahrerseite einstieg. Nicht aber, wie sie davonfuhr. Zudem war das Video nicht mit Zeitangaben versehen. Es hätte irgendwann sein können. Draganovic seinerseits legt dem Gericht die ungeschnittene Version vor.
Hasko Draganovic wertet auch die Aufnahmen der Verkehrskameras aus, die den Verkehrsfluss auf der A2 überwachen. Mehrere Stunden schaut er sich die unscharfen Bilder vorbeifahrender Autos an. «Und dann hatte ich den ultimativen Beweis.» Auf einem Autobahnabschnitt, der nur drei Minuten vom Kollisionsort entfernt ist, erkennt man seinen Wagen. Und auf der Fahrerseite die Reflexion einer Brille. «Nur meine Mutter trägt eine Brille. Ich trage Kontaktlinsen.»
Am 27. Februar 2025 spricht das Bezirksgericht Hochdorf Hasko Draganovic frei. «Der Richter war der Einzige, der mir wirklich zugehört hat.» Die Polizei und die Staatsanwaltschaft hingegen hätten sich nie von ihrer einst vorgefassten Meinung abbringen lassen.
Mangelhafter Strafbefehl: Kein Einzelfall
Zur Beobachter-«Fehlbefehl»-Jury gehört auch die Strafverteidigerin Angelina Grossenbacher. Sie sagt: «Die Arbeit der Luzerner Polizei war mangelhaft. Sie hätte den belastenden und den entlastenden Beweisen gleichermassen nachgehen müssen.» So habe der Beschuldigte seine Unschuld selbst beweisen müssen. «Das widerspricht der Unschuldsvermutung.» Laut Grossenbacher und Jurymitglied Agostino-Passerini ist Hasko Draganovic kein Einzelfall.
Alex Birrer ist Direktor der Interkantonalen Polizeischule Hitzkirch, wo Polizistinnen und Polizisten aus elf Kantonen ausgebildet werden – unter anderem auch aus Luzern. Es stimme nicht, dass in der Polizei eine Kultur herrsche, Belastendem eher nachzugehen als Entlastendem, sagt er: «Unschuldsvermutung und Untersuchungsgrundsatz werden in der Grundausbildung eingehend gelehrt.» Klar sei aber letztlich das einzelne Korps verantwortlich. Und was sagen Luzerner Polizei und Staatsanwaltschaft Emmen zum Fall Draganovic?
Da der Fall gerichtlich abgeklärt wurde, nahm die Luzerner Polizei gegenüber dem Beobachter nicht Stellung. Dafür aber die Staatsanwaltschaft Emmen. Sie verweist in ihrer Stellungnahme auf den Grundsatz «in dubio pro duriore», der innerhalb eines Strafverfahrens gelte – dass also im Zweifel eine Anklage erhoben wird.
Weil sich Hasko Draganovic zu Beginn selbst belastet habe, sei eine Einstellung des Verfahrens nicht zulässig gewesen – unabhängig von den vorgelegten Filmsequenzen. Die Staatsanwaltschaft betont, dass ein umfassendes Strafverfahren durchgeführt worden sei und mehrere Einvernahmen stattgefunden hätten. «Es wird klar bestritten, dass die Ermittlungen der Polizei und die Untersuchung der Staatsanwaltschaft einseitig erfolgt sind.»
«Keine strukturellen Auffälligkeiten oder Mängel»
Die Oberstaatsanwaltschaft Luzern erachtet es als grundlegend falsch, dass dieser Fall ausgewählt wurde. Es handle sich um ein in dieser Art häufig vorkommendes Strafbefehlsverfahren ohne strukturelle Auffälligkeiten oder Mängel. Das Gericht habe den Beschuldigten zwar freigesprochen – allerdings nur nach dem Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten».
Jurymitglied Agostino-Passerini sieht das kritisch. «Wenn Staatsanwaltschaften in Fällen, die unklar sind, einfach Strafbefehle erlassen, dann sind das tatsächlich nur Versuchsballone.» Einen Strafbefehl dürfe es grundsätzlich nur geben, wenn die Beweislage derart klar sei, dass sie einem Geständnis gleichkomme. «Wenn das nicht der Fall ist, müssen die Staatsanwaltschaften Anklage erheben, die Beurteilung also einem Gericht überlassen.»
Hasko Draganovic spielt seit je Schach. Damit vergleicht er den Fall: Er als Bauer, die Polizei als Dame. «Die Dame allein kann nicht gewinnen. Egal, wie mächtig sie ist. Zusammen mit meinem Anwalt, dem CEO der Raststätte und dem Bundesamt für Strassen, auf deren Überwachungsvideos ich zugreifen konnte, gelang es mir, meine Unschuld zu beweisen.»