Vor 42 Jahren gestorben
Notar sucht immer noch Erben von Gastarbeiter

Im Oberaargau starb ein Bauarbeiter bei einem Unfall. 42 Jahre später werden Erben gesucht. Und Schriftsteller Pedro Lenz erinnert sich.
Publiziert: 13:49 Uhr
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Aktualisiert: 13:59 Uhr
Die mysteriöse Geschichte spielt im Oberaargau. Im Bild: Langenthal.
Foto: Shutterstock

Darum gehts

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Thomas Angeli
Beobachter

Die Gschicht hie sötti eigentlech ä angere verzöue. Eine, wo dä Mönsch kennt het, wos hie umne geit, u wo denn säuber isch drbi gsi: dr Schriftstöuer Pedro Lenz. Dä het die Gschicht nämlich scho mou ufgschribe, ömu dr Afang, u zwar so, wie das ä Schriftschtöuer haut so macht, wenn är säuber Töu vore Gschicht isch: liecht verfrömdet, aber dr Schpur na richtig.

Aber fö mer vore a und am beschte grad uf Hochdütsch.

Nicht einmal eine Todesanzeige

Am 6. Dezember 1982 starb im Regionalspital Langenthal der Bauarbeiter Juan José Pérez Martinez, 61-jährig, geboren in Camango, Asturien. Als Fremder in der Schweiz geduldet, geschätzt höchstens als zuverlässiger und billiger Bauarbeiter. Einer, für den im «Langenthaler Tagblatt» nicht einmal eine Todesanzeige erschien, weil ihn ausser ein paar Arbeitskollegen und Bekannten aus dem Centro Español, dem Spanierclub, sowieso niemand kannte. 

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In das einfache Zimmer, das José Pérez auf dem Firmengelände der Willy Bösiger AG bewohnte, zog schon bald ein anderer ein. Der Gastarbeiter aus Asturien, der immer mehr Arbeiter als Gast war, ging nach und nach vergessen.

Doch zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, behielten ihn in Erinnerung. Der eine, weil er gern Geschichten erzählt. Der andere, weil er die Geschichte gern abschliessen würde. Und selbst wenn sich die Männer nie getroffen haben, sind ihre Geschichten auf schier magische Weise miteinander verknüpft.

Der Geschichtenerzähler ist der Schriftsteller Pedro Lenz, und die Geschichte von José Pérez ist auch ein wenig seine eigene. Pedro Lenz war Maurerlehrling bei der Willy Bösiger AG, als José Pérez starb. Der 17-jährige Schlaks mit spanischer Mutter und der alte Arbeiter aus Asturien waren in den Monaten vor dessen Tod Freunde geworden. «Ä grossi Klappe» habe er damals gehabt, sagt Lenz von sich: «Ich kam von einer total behüteten Welt in die Erwachsenenwelt der Baustelle und musste mich darin zurechtfinden. José hatte Erbarmen mit mir und zeigte mir, was geht und was nicht.»

Pedro Lenz' «Primitivo» ist die Geschichte des Verstorbenen

Jahre später widmete Pedro Lenz seinem Mentor ein Buch. «Primitivo» erzählt die Geschichte des spanischen Maurers José Pérez, den alle nur Primitivo nennen. Er stirbt auf den ersten Seiten des Romans bei einem Unfall auf einer Baustelle: «Dr Primitivo isch bim Usschale z Madiswiuu unger nes Schaligselemänt cho. Är hets nid überläbt.»

Der Ich-Erzähler Charly, ein 17-jähriger Maurerlehrling, trauert um seinen Freund. Er organisiert die Beerdigung und erinnert sich an gemeinsame Samstage in der bescheidenen Bleibe des alten Maurers. An spanische Gedichte, die ihm Primitivo vorgelesen hat, und an Geschichten aus dessen Leben: «Är het mi auben iiglade am Samschtig. De het er öppis gchochet und i ha ne chli usgfroget über d Länder, won er scho isch gsi. Mängisch het er mer ou bim Arbeitsbuech ghoufe oder öppis skizziert, zum Bispüu es Detail vore Sickerleitig.»

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind gewollt. Charly, der Maurerlehrling, hat eine spanische Mutter wie Pedro Lenz. Der fiktive Bauarbeiter Primitivo heisst genau wie sein reales Vorbild: José Pérez. Beide sterben bei einem Unfall auf einer Baustelle. Das Arbeitsbuch, bei dem ihm sein väterlicher Freund manchmal geholfen hat, hütet Pedro Lenz bis heute. 

Natürlich habe er einiges überhöht und anderes dazuerfunden, sagt Pedro Lenz, der Geschichtenerzähler. Nicht erfunden habe er hingegen Pérez’ Misstrauen gegenüber Banken. Im Buch klingt das so: «Är het einisch z Uruguay ä Bankecrash erläbt, im Johr 1965. I ha das Johr no genau gwüsst, wöu das mis Geburtsjohr isch. Und äbe, dört bi däm Bankecrash het er sis ganzen Ersparte verlore, aues, won er bis dört heg möge sparen, isch uf emene Sparkonto gsi, aber sini Bank hets glüpft u sis Guethabe het sech i Luft ufglöst.»

So beschreibt es Charly seinem Chef Loosli, als dieser nach Primitivos Tod in dessen Zimmer Geld findet: «Es si meh weder sibezgtuusig Dollar. E happige Betrag, für nen eifach so unger der Matratze ufzbewahre.»

«So viel war es dann doch nicht»

70’000 Dollar. Der Mann, der die Geschichte des wirklichen José Pérez gern abschliessen würde, schüttelt kaum merklich den Kopf: «So viel war es dann doch nicht», sagt er. Und auch, dass José Pérez wie sein literarisches Pendant alles unter der Matratze aufbewahrt habe, sei wohl der Fantasie des Schriftstellers entsprungen. Der Mann ist Notar. Sein Name tue hier nichts zur Sache, findet er.

Er blättert in einem dicken Bündel Akten: verblasste Handnotizen, Briefe auf Spanisch, die noch mit Schreibmaschine geschrieben wurden – und Bankauszüge. «Es gab da zwei Konten», sagt der Notar. Seit nunmehr 42 Jahren versucht er, das Geld, das José Pérez hinterlassen hat, an einen Erben oder eine Erbin zu überweisen.

Wenn er von seinem Büro aus dem Fenster blickt, sieht der Notar unter sich eine gewölbte Betonkuppel: «Solche Kuppeln hat die Willy Bösiger AG früher gebaut», sagt er. Und vielleicht habe ja José Pérez daran gearbeitet, wer weiss. 

Die Suche nach Erben blieb vergeblich

Juan José Pérez Martinez war 1982 einer der ersten Erbfälle des jungen Notars aus Langenthal. Und es ist einer der letzten, denn er hat vor einiger Zeit seine Kanzlei an Nachfolgerinnen übergeben und arbeitet seither nur noch alte Dossiers ab. 

In den über vier Jahrzehnten seit dem Tod des Spaniers auf der Baustelle ist der Notar allen möglichen Spuren nachgegangen. Er suchte über die Schweizer Botschaft in Madrid und schrieb unzählige Briefe an spanische Behörden. Selbst ein Bekannter suchte einmal in den Ferien in Asturien nach Hinterbliebenen – vergebens. 

Nur eine einzige Kopie fehlte noch

Nur einmal wäre der Notar fast zum Ziel gekommen. Er hatte eine entfernte Verwandte von José Pérez aufgespürt, und diese reagierte tatsächlich auf sein Schreiben und schickte aus Asturien Dokumente nach Langenthal: eine Wohnsitzbestätigung, eigenhändig unterschrieben vom Bürgermeister ihres Dorfs, einen Auszug aus dem Familienregister, eine Vollmacht. Es fehlte einzig eine beglaubigte Kopie ihres Personalausweises. Und ohne diese war die «Erbenqualität» nicht zu belegen. Als der Notar den Ausweis einforderte, kam keine Antwort mehr zurück. 

Er hätte den Fall längst zu den Akten legen können: «Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass da jemand sein muss, der mit Pérez verwandt war. Und das Geld einfach so dem Staat zu geben, widerstrebte mir immer.» 

Der Anwalt hat Pedro Lenz' «Primitivo» nie gelesen

So hat der Notar das Erbe von José Pérez alias Primitivo mehr als 40 Jahre verwaltet. Doch jetzt ist Schluss. Im Dezember nahm er einen letzten Anlauf und schaltete im «Anzeiger Oberaargau» einen finalen Erbenaufruf: «Der Verstorbene ist ledig und kinderlos verstorben», steht darin. «Er hat keine Verfügung von Todes wegen hinterlassen, sodass die gesetzliche Erbfolge gilt. Es sind keine gesetzlichen Erben des Verstorbenen bekannt.»

Pedro Lenz, der Schriftsteller, wusste nichts von den Bemühungen des Notars. Und Letzterer hat «Primitivo», die fiktive und doch irgendwie wahre Geschichte des Bauarbeiters José Pérez, nie gelesen. 

Pedro Lenz erinnert sich an ein «Göttiching»

Denn dessen Erbe ist auch im Buch von Pedro Lenz ein Thema. Ich-Erzähler Charly erinnert sich an ein «Göttiching» namens Tatjana, das in der Gegend von Biarritz in Frankreich lebe. Der Vater von Charlys Freund Richu schaltet darauf eine Annonce, und tatsächlich hat Richu schon bald gute Neuigkeiten zu dem Inserat: «Am Samschtig sigs z Frankriich i de Zitige gsi, und hütt am Morge heig sie Vatter vor Inserateagäntur scho über Telex erfahre, es heig sech e Frou gmäudet, wo mit ihm wöu Kontakt ufnäh. Es sig offebar di Tatjana, wo me suechi.»

Im richtigen Leben hat sich bisher niemand beim Notar in Langenthal gemeldet. Sollte es Tatjana tatsächlich geben, so hat sie noch bis zum 31. Dezember Zeit, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Falls er bis dahin nichts hört, geht das Geld – keine «sibezgtuusig Dollar», aber immerhin ein tiefer fünfstelliger Frankenbetrag – halt doch an den Staat. Henusode.

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