Darum gehts
Es ist halb 11 Uhr vormittags an einem düsteren Dezembertag in Visp VS. Ein Mann hat ein Zimmer gebucht und will sich dort einquartieren. Doch der Raum ist besetzt.
Er klopft, ein Mann macht auf. Der Neuankömmling fordert ihn auf, sofort zu gehen. Vergeblich. Kurz bevor die Tür vor seiner Nase zuknallt, klemmt er sein Knie dazwischen. Dann eskaliert die Situation.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Gepäck fliegt, ein Messer blitzt
Der Neuankömmling stürmt in das Zimmer, packt den anderen an der Gurgel, drückt ihn gegen den Schrank und wirft sein Gepäck auf den Flur.
Dessen Besitzer hechtet auf den Korridor, um an seinen Rucksack zu kommen – in dem ein Brotmesser steckt. Es folgt ein Gerangel, bei dem er die Klinge seinem Gegner mehrmals an den Hals hält. Sie ist 26 Zentimeter lang.
Mit Schnittwunden am Hals gelingt es dem Neuankömmling, sich zu befreien – mit einem Faustschlag aufs Auge des Gegners. Am Ende sind beide Männer verletzt.
Der Kampf geht weiter – vor Gericht
Rund vier Jahre später steht der Mann, der das Brotmesser gezückt hat, vor Gericht. Der Vorwurf: versuchte vorsätzliche Tötung. Doch der Angeklagte plädiert auf Notwehr.
Hat er recht? Der Beobachter zeigt, wann es gerechtfertigt ist, andere zu verletzen.
- Wer angegriffen wird, darf sich wehren: Selbstverteidigung ist erlaubt. Wer angegriffen wird, darf sich wehren – und den Angreifer unter Umständen sogar verletzen. Wer in Notwehr handelt, wird nicht bestraft. Wichtig: Man darf nur reagieren oder eingreifen, wenn man angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht wird.
- Der Angriff darf noch nicht vorbei sein: Notwehr ist nur so lange zulässig, wie der Angriff andauert. Wehren darf man sich also nur, wenn man das Messer bereits am Hals hat. Das heisst: Wenn eine Verletzung schon im Gang ist oder unmittelbar bevorsteht. Nicht mehr auf Notwehr berufen kann man sich, wenn der Angriff bereits wirksam abgewehrt ist. Zum Beispiel, weil jemand den Angreifer schon kampfunfähig gemacht hat.
- Die Abwehr muss verhältnismässig sein: Wer bloss bestohlen wird, darf nicht mit einem Baseballschläger zuschlagen. Man darf also nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen. Die Gegenwehr muss angemessen sein. Mit Messern oder Schusswaffen muss man besonders zurückhaltend sein. Sie sind nur dann gerechtfertigt, wenn man selbst in Lebensgefahr ist oder schwer verletzt werden könnte. Wer angegriffen wird, muss sich also – oft innert Sekunden – fragen: Kann ich mich auch mit weniger gefährlichen Mitteln wehren?
- Wer zu weit geht, wird bestraft: Wer trotzdem mit dem Baseballschläger auf den Schmuckdieb losgeht, geht zu weit. Man verteidigt sich zwar, aber überschreitet dabei das zulässige Mass. Die Folge: Man kommt nicht straflos davon. Immerhin wird man nicht voll bestraft. Das Gericht mildert die Strafe, sofern es findet, dass die Aktion angesichts der ganzen Aufregung entschuldbar war.
Und wie ist es mit dem Angeklagten weitergegangen? Er zog den Fall durch alle Instanzen – und bekam vor dem Bundesgericht recht. Zumindest in Bezug auf die versuchte Tötung: Er durfte sich zwar wehren, weil er mit Gewalt aus dem Zimmer geworfen wurde. Aber der Messerangriff war übertrieben.
Sprich: Er hat überreagiert, seine Abwehr war nicht mehr verhältnismässig. Deshalb kommt er nicht ungeschoren davon. Immerhin milderte das Gericht seine Strafe.