Ein Mann kommt herein, mit Mundschutz und Handschuhen. Er hat einen Leichensack dabei und sagt: «Das ist nicht meine eigentliche Arbeit.»
Dann lächelt er verlegen. Normalerweise löscht der Mann Feuer, rettet Unfallopfer oder holt Katzen vom Baum. Aber was ist dieser Tage in Genf schon normal?
Das Coronavirus grassiert. «Verglichen mit dem Durchschnitt der Vorjahre hat sich die Zahl der Verstorbenen in diesem November verdoppelt», sagt Stadträtin Christina Kitsos (39).
Seit Ende dieser Woche helfen in Genf auch Feuerwehrleute als Bestatter aus. Sie fahren Leichenwagen, fassen mit an, um die Leichen auf Bahren zu heben. «Auch weitere städtische Angestellte können im Bestattungsdienst aushelfen, wie etwa Gärtner für den Transport der Särge», erklärt Kitsos.
Gearbeitet wird nun auch am Wochenende und in längeren Schichten, natürlich «freiwillig», wie die Politikerin betont. Die Stadt hat zusätzliches Personal eingestellt. Man sucht weiterhin nach Verstärkung.
Christina Kitsos macht einen Schritt zur Seite, ein weiterer Sarg wird angeliefert. 70 Tote fassen die Kühlräume auf den Genfer Friedhöfen – sie sind voll belegt. Überzählige Tote nimmt die Leichenhalle des Unispitals auf. 57 liegen schon dort, Platz ist für 250.
Lage unter Kontrolle
So und mit weiteren Massnahmen sei die Lage unter Kontrolle, betont Kitsos: «Ich will auf keinen Fall die Eislaufbahn Les Vernets zu einer Leichenhalle umfunktionieren oder Kühltransporter anschaffen.» Das Krematorium läuft bereits ohne Unterlass, täglich 18 Einäscherungen, mehr schaffen die drei Öfen nicht.
Glänzende Autos parkieren rückwärts vor der Leichenhalle des Friedhofs Saint-Georges. Sie öffnen den Fond, wieder trifft eine neue Welle ein, diesmal sind es zehn Tote in einer Stunde. «Das ist doch nicht normal!», stöhnt ein Bestatter. Sein Tag begann um halb acht und dauert bis kurz vor Mitternacht. Dennoch gehen er und seine Kollegen bemerkenswert natürlich mit dem Tod um.
Rund jeder Zweite hier ist an Covid-19 gestorben. Man erkennt das am weissen Leichensack und an dem orangen Warnkleber – auch Tote können ansteckend sein. Ein Leichensack hat einen Riss, mit ruhigen, routinierten Handgriffen kleben die Männer ihn zu.
Sieben von 50 Mitarbeitern des städtischen Bestattungsdienstes haben sich seit Beginn der Pandemie mit dem Virus angesteckt. Dass es bei der Arbeit geschah, muss nicht sein, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Fässer mit Sondermüll warten auf den Abtransport: Leichentücher, Handschuhe, Hygieneartikel – vom Virus verseucht. Früher kam der Fahrer einmal im Monat. Jetzt fährt er im Zwei-Wochen-Takt vor.
1702 Tote in sieben Tagen
Dass die Lage dramatisch ist, verrät auch der Umstand, dass die Schweiz derzeit zu den Ländern mit der höchsten Todesrate gehört – und die bereits deutliche Übersterblichkeit sich weiter zuspitzt. Allein zwischen dem 2. und 8. November starben insgesamt 1702 Menschen, 566 mehr als das Bundesamt für Statistik im Normalfall erwartet hätte. Jeder Todesfall steht für jemanden, der geliebt, gelacht und geträumt hat – und der nun schmerzlich vermisst wird.
Am stärksten trifft es die Alten: Die Mehrheit der Verstorbenen ist über 80 Jahre alt. Zahlen sie den Preis für die Lockerung der Massnahmen insbesondere während der Sommermonate? Hat der Bund sie gar für seinen Sonderweg geopfert? «Es wäre anmassend, darüber ein Urteil zu fällen», sagt der Schweizer Bioethiker und Philosoph Christoph Rehmann-Sutter (61). Selbstverständlich hätte man die Ansteckungszahlen mit einem weiteren Lockdown schneller senken können. Bei der Frage nach den angemessenen Massnahmen würden aber mehrere Aspekte eine Rolle spielen: «Menschen sind auch auf soziale Kontakte angewiesen.»
Rehmann-Sutter: «Man kann nicht sagen, die Schweiz nimmt die Toten in Kauf. Das wäre nur der Fall, wenn sie gar nicht handeln würde.» Kein Verständnis hat Rehmann-Sutter hingegen, wenn jemand sagt, die Betroffenen, betagte und vorerkrankte Menschen, müssten ohnehin bald sterben: «Das ist sehr zynisch und unmoralisch. Wenn man so argumentiert, müsste man ganz aufhören mit der Medizin.» Ein Menschenleben sei mit zunehmendem Alter nicht weniger wertvoll. Es müssten so viele Menschen gerettet werden wie möglich.
Der Tod als ständiger Begleiter
Gerade in Altersheimen ist der Tod ein ständiger Begleiter – «und nichts, was die alten Menschen aus der Fassung bringt», sagt Anne-Katherine Fankhauser (55), Pfarrerin und Heim-Seelsorgerin im Kanton Bern. Die Senioren fühlten sich nicht als Opfer einer zu wenig entschlossenen Strategie – zumindest nicht in der Deutschschweiz: «Viele sind sogar dankbar, dass die Gesellschaft auch ihnen zuliebe auf vieles verzichtet. Uns jüngeren Menschen machen die hohen Todesfallzahlen aktuell überraschenderweise mehr Mühe als den älteren.»
Im Frühjahr schien das noch anders. Damals war unklar, wie der Sterbeprozess bei Corona verläuft, sagt Peter Burri Follath (50) von Pro Senectute, der Fachstelle für Altersfragen: «Die Senioren hatten Angst, beim Sterben zu leiden. Jetzt ist vieles klarer.» Das habe viele Ängste gelindert.
Angst vor dem Sterben habe sie nicht, sagt auch Hedy Urfer (82) aus dem Kanton Aargau. «Ich habe ein Alter erreicht, in dem ich sagen muss: Wenn es fertig ist, ist es fertig.» Doch auch sie mache sich Gedanken über die hohen Todesfallzahlen. «Es ist furchtbar, wenn sich das Virus weiter ausbreitet, die Spitäler überfüllt sind und das Personal an seine Grenzen kommt», so die Seniorin. Strengere Massnahmen würde Urfer darum begrüssen. Nicht alle Betagten sähen das gleich, sagt Peter Burri Follath: «Die Senioren, die sich bei uns melden, hoffen aber, dass die Schweiz aus den hohen Todesfallzahlen lernt und nicht noch einmal die gleichen Fehler macht wie im Sommer.»
Sehnsucht nach Nähe
Was alle eint, ist die Sehnsucht nach Nähe. «Viel mehr als jene vor dem Tod beschäftigt die Menschen aktuell die Angst, die Familie nicht sehen zu dürfen», so der Fachmann von Pro Senectute. Das beobachtet auch Anne-Katherine Fankhauser. Gedanken machten sich die alten Menschen generell eher um ihre Angehörigen als um sich selbst: «Viele Hochaltrige haben selbst Kinder, die schon im Risikoalter sind, und sind besorgt, ob diese auch gut auf sich aufpassen.»
Zu Recht, sagt Peter Burri Follath. Denn auch bei älteren Menschen sei eine Corona-Müdigkeit zu spüren. Aktuell häuften sich bei Pro Senectute die Meldungen, dass gerade jüngere Senioren Quarantäne-Verordnungen nicht ernst nehmen: «Dabei ist es wichtig, dass wir uns jetzt alle an die Massnahmen halten.»
Kein Kanton will in eine Lage geraten wie Genf. Auf dem Höhepunkt der Pandemie, vor rund zehn Tagen, mussten die Familien dort nach dem Tod ihrer Liebsten bis zu zehn Tage auf deren Bestattung warten. Nun sei man wieder bei den üblichen vier bis fünf Tagen, so Stadträtin Kitsos. «Langsam stabilisiert sich die Lage etwas. Zumindest ist das Wachstum nicht mehr exponentiell.»
Und doch, es sind aussergewöhnliche Tage. Die Politikerin bedankt sich bei einem Feuerwehrmann. Der sagt: «Es ist einfach eine Arbeit.» Und zuckt mit den Schultern.
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