Darum gehts
Das Leben der Grossfamilie Kölliker aus Mühlrüti SG wurde im Herbst 2021 völlig auf den Kopf gestellt. Vater Marcel (51) musste wegen ausbleibender Aufträge aus einer eigenen Versicherungsberatungsfirma aussteigen und ist seither auf endloser Suche nach einer festen Arbeitsstelle. Trotz jahrzehntelanger Erfahrung, tiefer Ansprüche und mehrerer Hundert Bewerbungen findet er keinen Job.
Stattdessen amtet er seit über drei Jahren als «Hausmann wider Willen» im achtköpfigen Haushalt im Untertoggenburg. Eine Situation, die das Familienleben stark auf die Probe stellt. Und die Frage aufwirft, wie Ü-50er in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Schon bei der Einfahrt zu den Köllikers erhält man eine Ahnung davon, wie wuselig es in diesem Haus der Grossfamilie (fünf Söhne, eine Tochter) zu- und hergeht. Der jüngste Sohn begrüsst den Blick-Reporter überschwänglich und verschwindet wenige Momente später wieder im Haus, um dann später mitten im Interview den unbändigen Drang zu verspüren, «Eile mit Weile» mit Mama zu spielen.
Hausmann wider Willen
Herr über dieses herzerwärmende Gewusel ist seit mehr als drei Jahren Marcel Kölliker – wenn auch unfreiwillig. Der langjährige Versicherungsberater und erfahrene Kaufmann musste sich Ende 2021 aus seiner eigenen Firma zurückziehen und kümmert sich seither um das Familienleben. Nicht ohne Nebengeräusche.
Denn: Seine Frau Priska (43) verdient seither als Verkäuferin in einem Teilpensum die Brötchen für die Familie, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschen würde, als wieder «nur» Mama zu sein. Sie macht klar: «Ich bin eine Vollblutmama. Mir zerreisst es das Herz, meine Kinder morgens verabschieden zu müssen, wenn ich drei bis vier Mal die Woche zur Arbeit fahre.»
Das Familienleben gestaltet sich seither chaotisch: «Wenn etwas mit den Kindern ist, ruft die Schule immer noch mich als Erstes an.» Marcel würde seine Sache als Papa zwar herausragend machen, allerdings habe er andernorts seine Schwächen: «Im Haushalt hat er andere Augen als ich», lacht sie, «ich habe deutlich höhere Ansprüche, als die, die er als Hausmann erfüllen kann.» Nie im Leben hätte Priska gedacht, dass sie diesen Satz jemals sagen würde, aber: «Wenn ich nach einer Neun-Stunden-Schicht nach Hause komme, erwarte ich einfach, dass der Haushalt gemacht ist», sagt sie halb scherzend, halb im Ernst.
Hunderte von Bewerbungen
Marcel Kölliker nimmt die neckischen Seitenhiebe seiner Gattin sportlich: «Meine Frau kann natürlich (fast) alles besser als ich!» Auch, weil er nichts lieber machen würde, als wieder Vollzeit zu arbeiten: «Ich dachte damals, dass es nur wenige Monate dauern würde, bis ich einen neuen Job ergattere.» Doch weit gefehlt.
Kölliker schreibt in den letzten drei Jahren wie wild Bewerbungen. «Ich habe mich über 200 Mal erfolglos beworben». Er sagt: «Mal sagte man mir, ich könne mich wegen meiner vorherigen Selbstständigkeit nicht unterordnen, mal war ich nicht ‹dynamisch› genug oder passte nicht ins Team.» Letztere beiden Punkte können auch als «Du bist zu alt» interpretiert werden. Dabei wolle er nichts anderes als arbeiten.
Kölliker gehört mittlerweile nämlich zu einer Gruppe, die es aus unerfindlichen Gründen immer noch schwer hat auf dem Arbeitsmarkt: zu den über 50-Jährigen. Sie gelten gemeinhin als loyal, eifrig und anspruchslos. Dennoch kämpfen viele Ü-50er mit der Jobsuche.
Ab 50 Jahren wird es schwer auf dem Arbeitsmarkt
«Ich habe noch mindestens 15 Jahre im Arbeitsmarkt vor mir», sagt Marcel Kölliker. «Wenn ich lese, dass die meisten Leute heute nach drei bis vier Jahren ihren Job wechseln, frage ich mich, wieso man nicht auf loyale und vielleicht auch etwas ältere und erfahrene Mitarbeiter setzt», kritisiert er. Seine Ansprüche seien niedrig. Er wolle nur einen sicheren Job, bei dem der Lohn mehr oder weniger rechtzeitig komme. «Wenn ich mir frei etwas wünsche dürfte, dann wäre es, dass ich bei meinem neuen Job jeden Tag etwas dazulerne», fasst er zusammen. Die Branche sei zweitrangig. Die einzige Bedingung für den Familienmenschen Kölliker: «Der Job sollte zumindest in der Nähe sein. Ich möchte meine sechs Kinder abends sehen können.»
Aktuell arbeitet Marcel sehr unregelmässig in einem Datenzentrum in der Region. Mal einen Tag pro Monat, mal eine Woche. Er geniesst die Arbeit, seine Familie bekommt er von den wenigen Aufträgen aber nicht satt. Sie steckt in einem Dilemma: «Wir sind für dieses ‹moderne› Familienmodell einfach nicht gemacht», bekräftigt Priska Kölliker. «Ich will das nicht kritisieren, es passt einfach nicht zu mir – und auch nicht zu uns als Familie!»