Darum gehts
- Nüchterner Besuch des Open Air St. Gallen nach Jahren des Alkoholkonsums
- Alkohol als Treiber für viele Festivalbesucher, aber nüchtern intensivere Erfahrungen
- Fast 20 Jahre lang trank der Autor exzessiv beim Festival
Mit verklebten Augen wache ich auf, das Zelt hat sich auf 50 Grad aufgeheizt, mein Mund macht einer Wüste ernsthafte Konkurrenz. Die Stiefel liegen in einer Wasserpfütze, die Socken sind durchnässt. Mein Kopf dreht sich, ich weiss kaum, wo oben und unten ist.
Das war am Open Air St. Gallen 2013. Eines der schlimmsten in meiner zweifelhaften «Karriere». Bereits kurz nach dem Eintreffen «teleportiere» ich mich von Tag zu Tag. Gedächtnisfetzen des letzten Tages weichen in kurzen Abständen dem Blick auf die Zeltdecke nach dem Aufwachen. Die Tage sind kurz, und ich bin, im Gegensatz zum Zelt, immer dicht.
Emotionen kommen hoch
Wir springen zwölf Jahre in die Zukunft. 2025 sitze ich im Bus und lasse mich zum Festivalgelände fahren. Vor zwei Jahren begab ich mich in einen Alkoholentzug, seitdem gehe ich nüchtern durchs Leben. «Jetzt: suufe», sagt ein Mann neben mir, als sich die Bustüren öffnen. «Wegbier, Weeegbiiieeer», schreit ein junger Mann aus einem Festzelt entlang des Weges.
Als sich der Wald lichtet und ich eine atemberaubende Aussicht auf mein geliebtes Festival im Sittertobel habe, wird mir schlagartig klar: Das hier, das hast du noch nie in deinem ganzen Leben nüchtern gemacht. Kurz kommen mir die Tränen, ich kann es selbst kaum fassen.
Nüchtern an ein Open Air zu gehen, ist schwierig. Kotzende Menschen, torkelnde Massen, Leute, die Leute stützen müssen, Lärm. Aber auch ganz viele lachende Gesichter, Witze, Spass und Freude.
Ohne Alkohol geht jeder Bassschlag tief, jedes Bühnenlicht brennt sich in die Netzhaut. Jede Konversation, speziell mit Betrunkenen, wird gespeichert und absorbiert. Jede Duftnote, wenn Menschen wie Schnapsbrennereien riechen, wird im Hirn registriert. Alkohol, der sich früher in solchen Situation schützend wie Watte um den Kopf gelegt hatte, ist weg. Aber es heisst auch: keine Gedächtnislücken mehr, kein Lallen, keine Schlagseite, kein beschämtes Aufwachen, kein Sieben-Tage-Kater mehr. Freiheit.
«Suuf mol meh, du Lappe»
Alkohol ist omnipräsent: Auf selbst gebastelten Fahnen, damit sich einzelne Party-Gruppen wiederfinden, stehen lustige Biersprüche. «Suuf mol meh, du Lappe» oder «Nidwalden mein Life, Schüga mein Drive».
Alkohol – oft in rauen Mengen – ist hier im Tobel tatsächlich eine Art Treiber. Du hast Kopfschmerzen? Bier. Du fühlst dich ausgelaugt? Bier. Du traust dich nicht, jemanden anzusprechen? Bier. Und das Wichtigste am Morgen: Du hast einen Kater? Bier. So liess ich mich fast 20 Jahre durchs Sittertobel treiben. Der Gedanke daran lässt mich heute erschaudern.
«Ah, du bist doch der, der nichts trinkt», sagt ein schon gut betankter Festivalgänger abschätzig zu mir. «Ja, der bin ich», sage ich stolz, während er mich feixend anschaut und Mühe hat, mich mit den Augen zu fixieren.
«Ich weiss selber nicht, warum ich so viel trinke»
Solche Situationen sind selten. Der Zuspruch, den ich erhalte, ist überwältigend. Ein Jugendfreund sagt zu mir: «Ich finde das so geil, dass du hier bist und nichts trinkst. Ich könnte das niemals.» Dann wird er reflektiert: «Ich weiss eigentlich selber nicht wirklich, warum ich trinke – und warum so viel, wenn ich hier bin.»
Die Brauerei Schützengarten publizierte am Donnerstag ein Instagram-Video, auf dem man einen biertrinkenden Mann sieht. Unter dem Video steht: «Morgens: Nume eis Schüga. Mittags: Villicht no eis.» Es gibt wohl keinen anderen Grossanlass, bei dem man Alkoholkonsum schon am Morgen so schamlos propagieren kann. Die Stimmung am Open Air St. Gallen ist geradezu verleitend für unkontrollierten Konsum. Vier Tage annähernd gesetzloser Heiterkeit, der nächste Bierstand ist gleich um die Ecke – die Sanität auch. Der Stand der Suchthilfe liegt versteckt in einer Ecke des Geländes.
Mein Fazit: Stellt man es richtig an, gelingt der nüchterne Open-Air-Besuch ohne weiteres. Entscheidend ist die Auswahl der Begleiter. Sie sollten im Idealfall wenig bis gar nichts trinken. Und: Pausen. Immer wieder abschalten und so die vielen Eindrücke, die man betrunken schnell vergessen hätte, verarbeiten. Dann wird jedes Festival geiler als mit Sprit. Garantiert keine Schnapsidee.