Darum gehts
- Emma P. lebte über zehn Jahre in verwahrlostem Haus
- Finanzielle Probleme und Überlastung führten zur Vernachlässigung des Haushalts
- Sie arbeitete Doppelschichten und schlief nur vier Stunden pro Nacht
Der Fussboden ist übersät mit Sachen. Plastiksäcke, Schuhe, Decken, Kissen, Kabel, DVDs, Plüschtiere, Schachteln, Kleider, Sportsachen. Das Haus ist vollgestopft mit Hausrat, Dokumenten, Bettrosten, Truhen, Schränken – und alles liegt kreuz und quer auf dem Boden.
Am Montag berichtete Blick über Viola Osterloh (40), Reinigungsexpertin für Messie-Wohnungen und Tatorte. Sie räumt aktuell das Einfamilienhaus im Kanton St. Gallen. Die Zustände darin sind dramatisch.
Blick darf Emma P.*, die Besitzerin und Bewohnerin des Hauses, zum Interview in einem Restaurant in St. Gallen treffen. Ihren zwei mittlerweile erwachsenen Kindern zuliebe möchte sie anonym bleiben. Sie wirkt ruhig und kontrolliert – doch gleichzeitig ist auch eine gewisse Anspannung spürbar. «Seit dem ersten Treffen mit Frau Osterloh geht es mir schon fast super!», sagt sie zu Beginn des Gesprächs.
«Was Sie gesehen haben, war nur die Hälfte»
P. lebte über zehn Jahre lang mit ihren Kindern in diesem Haus. Mal war es aufgeräumter, mal weniger. «Das, was Sie in meinem Haus gesehen haben, war die Hälfte dessen, was es einmal war», sagt sie. Bis unter die Decke stapelte sich der Abfall einst. Gegenüber Blick schildert sie, wie es dazu kam, dass sie mehr als ein Jahrzehnt lang ihr Zuhause verwahrlosen liess.
Am Anfang standen familiäre Probleme: Sie erzählt vom Alkoholkonsum ihres Ex-Mannes, von Streitereien, von Randalen und Bedrohung. Ab 2012 wohnten sie zu viert in dem Haus. Nach langem Hin und Her zog der Ex-Mann aus, sie blieb mit den beiden Kindern zurück. Das war 2015. Eine grosse Belastung war weg, doch die Probleme blieben. «Man schlägt dem Drachen den Kopf ab, und es wachsen sofort zwei neue.»
Emma P. spricht oft in Metaphern, um zu erklären, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Sie erzählt, dass ihr Ex-Partner keinen Unterhalt zahlte und sie als Angestellte im Gesundheitsbereich plötzlich für ein ganzes Haus und die Kinder aufkommen musste.
Doch das Geld reichte nicht. Sie begann, in ihrem Job Doppelschichten zu schieben. Hinzu kamen Spitex-Fahrdienste in der Freizeit und Springer-Einsätze während ihrer Ferien. Flüssig war sie dennoch nie – und der Hausrat begann, sich zu stapeln.
«Konstant ein schlechtes Gewissen», sagt sie über die Zeit, in der vieles vermehrt im Haus liegen blieb. Doch anstatt aufzuräumen, musste sie dringend schlafen, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit musste. Pro Nacht verbrachte sie meist nicht mehr als vier Stunden im Bett.
Ihr Gedankengang dabei: «Wenn du morgen nicht arbeiten gehst, hat es kein Geld mehr. Wenn es kein Geld mehr gibt, haben wir nichts zu essen.» Auf die Frage, ob es im Haus jemals Besuch gab, antwortet sie mit einem lauten: «Nein!»
«Aufräumen nicht die Priorität Nummer eins»
Nach einigen Jahren stieg der Boiler aus. Auf dem Herd erwärmte sie Wasser und brachte dieses kübelweise zum Duschen ins Badezimmer. «Die Idee war eigentlich immer: überbrücken», sagt P. «Aber eine solche temporäre Situation kann sich schnell in Jahre verwandeln, weil man die Energie und die Kraft nicht hat. Solange alles halbwegs funktioniert, ist Aufräumen nicht die Priorität Nummer eins, weil es andere Baustellen gibt.»
Emma P. ist beileibe nicht unkritisch mit sich selber. Immer wieder spricht sie von Scham, von Aufräumversuchen. «Es braucht wahnsinnige Selbstkontrolle, in so einem Ghetto noch funktionieren zu können.» Ein eigentlich hilfreiches Attribut, das unter diesen Umständen aber zu einem Problem mutierte: «Meine Toleranzgrenze ist zu hoch geworden.»
Ein krasses Beispiel: «Ich hatte x-mal zu wenig Geld für den Strom, also stellten sie mir den Strom ab. Dann habe ich halt draussen ein Feuer gemacht und darüber gekocht. Es war wie Camping – aber im Survival-Modus.»
Ihr Leben sei schleichend aus dem Ruder gelaufen. «Ich war so auf Lösung getrimmt. Ein anderer Mensch hätte schon lange gesagt: ‹Nein, fertig, so geht das nicht mehr.› Und ich dachte: Überleben wir einfach heute noch.» Mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit will sie aufrütteln. Viele Menschen in der Schweiz litten unter dem gleichen Problem. «Die Dunkelziffer ist riesig», ist sie sich sicher.
Dass sie nach all den Jahren endlich den Mut gefunden hat, Hilfe zu holen, hat einen einfachen Grund. In den letzten paar Jahren fand sie endlich ein bisschen Energie und füllte auf eigene Faust bereits vier Abfallmulden. «Ich sagte mir jahrelang: Sobald du die Chance hast, ein bisschen aufzuräumen, holst du dir Hilfe.»
Mittlerweile führt Emma P. ein geordneteres Leben. Das bald geräumte und geputzte Haus soll verkauft werden – und dann will sie erstmals wieder ein bisschen Ferien machen: «Nach 15 Jahren ohne Luft zum Atmen.»
*Name geändert