Ein Erfolgsmodell
Mit welchem Trick sich Muri eine Ärztin angelte

Besonders auf dem Land fehlen Hausärzte. Das war auch in Muri AG ein Problem. Doch dann hat die Gemeinde kurzerhand eine eigene Praxis gegründet.
Publiziert: 24.07.2025 um 15:13 Uhr
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Aktualisiert: 24.07.2025 um 15:56 Uhr
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Die Köpfe hinter dem Pilotprojekt einer «gemeindeeigenen Hausarztpraxis»: Gemeindepräsident Hampi Budmiger und Hausärztin Verena Gantner
Foto: Samuel Schalch

Darum gehts

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Anina Frischknecht und Birthe Homann
Beobachter

«Leider können wir keine neuen Patienten aufnehmen.» Wer im Aargauer Freiamt eine Hausärztin sucht, hört oft nur diesen Satz. Im Aargau ist die Grundversorgung Stück für Stück weggebrochen. Die Hausärztedichte liegt weit unter dem Schweizer Durchschnitt von einer Hausärztin pro 1200 Einwohnerinnen.

Besonders prekär ist die Lage in der Gemeinde Muri. Da müsste sich ein Hausarzt allein um mehr als 2000 Einwohnerinnen und ihre Krankengeschichten kümmern. Unmöglich. 

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Muri hat rund 8600 Einwohner, im nahen Murimoos leben 50 Storchenpaare, und das fast 1000-jährige Kloster, eines der wichtigsten Kulturdenkmäler des Kantons, besticht mit fünf Orgeln. Hausarztpraxen hat das ganze Dorf nur drei. Eine davon gehört der Gemeinde – ein Novum in der Schweiz. 

Rettung: Gemeindeeigene Hausarztpraxis

«Mit dem Hausärztemangel ist es wie mit dem Klimawandel: Wir handeln erst, wenn es eigentlich zu spät ist», sagt Hampi Budmiger zum Beobachter. Er ist 49 Jahre alt und seit elf Jahren Gemeindepräsident in Muri. In einem Sitzungszimmer des Klosters erzählt er an diesem Sommermorgen zusammen mit der immer noch aktiven Hausärztin Verena Gantner, 72, wie Muri es leid war, auf politische Lösungen zu warten.

Sie nahmen deshalb die «Rettung» der lokalen Grundversorgung selbst an die Hand: mit der gemeindeeigenen Hausarztpraxis Muri Freiamt. «Gemeindeeigen» heisst: Die Gemeinde hat das Pilotprojekt rund um die neue Praxis ins Leben gerufen. Sie ist heute, vier Jahre später, ihre Mehrheitsaktionärin und hat eine Absichtserklärung abgegeben, ein allfälliges Defizit mitzutragen.

Wie die Idee der Gemeindepraxis entstand

«Ich habe seinerzeit für die Gründung meiner eigenen Praxis nur sechs Monate gebraucht», sagt Verena Gantner. Sie betreibt seit 40 Jahren eine der wenigen anderen Hausarztpraxen in Muri und Umgebung. Budmiger lacht. Vier Jahre von der Idee bis zur Eröffnung sei ziemlich schnell – im politischen Kontext. «Aber nicht schnell genug», findet Gantner. 

Sie habe sich nie gross über den mangelnden medizinischen Nachwuchs Gedanken gemacht. Bis Hampi Budmiger mit seinem Kampf gegen die wegbrechende Grundversorgung auf sie zugekommen sei. Die zwei haben Fäden gesponnen, die zu einem Pilotprojekt verwoben wurden. Heute sitzt Gantner als «medizinisches Gewissen» im Verwaltungsrat der Hausarztpraxis Muri Freiamt und macht den Politikern Dampf. 

Ein Abenteuer

«Die Gründung der Gemeindepraxis, ob schnell oder nicht, war auf jeden Fall ein Abenteuer», sagt Budmiger. Und die Gemeindeversammlung hat sich darauf eingelassen. Für das Pilotprojekt beantragt waren: 100’000 Franken Aktienkapital, 150’000 als zinsloses Darlehen. Das sei kein Griff nach den Sternen gewesen, so Budmiger. «Doch am Schluss ging es um die Frage, ob die Murianerinnen an das Projekt glaubten oder nicht.» Und ob sie finden, dass der Staat etwas an die Grundversorgung leisten müsse oder dass die Hausärztinnen als eigenständige Unternehmerinnen auf dem Markt selber überleben müssten.

Gemeindepräsident Hampi Budmiger: «Die Gründung der Gemeindepraxis war ein Abenteuer».
Foto: Samuel Schalch

Die Murianerinnen haben ans Projekt geglaubt. Oder sie wussten, dass es der einzige Weg ist, die medizinische Grundversorgung vor Ort zu erhalten. Denn die Gemeinde hatte schon alles versucht, hatte Gruppen- und Investorenpraxen angefragt, ob sie sich in Muri niederlassen wollen.

Doch der Kanton Aargau ist wenig attraktiv für Hausärztinnen. Weil sie hier keine Medikamente verkaufen können wie in anderen Kantonen – und so auf wichtige Einnahmen verzichten müssen. Und Muri, fast irgendwo im Nirgendwo gelegen, hat es doppelt schwer. Junge Hausärztinnen arbeiten lieber in der Nähe von Städten. Da kann die Landschaft, die Verena Gantner gern anpreist, noch so schön sein. 

Traumhafte Bedingungen für Hausärzte

Also spielte das Dorf einen anderen Trumpf. Mit einer zusätzlichen Finanzspritze des Kantons von knapp 1,5 Millionen Franken und einer weiteren halben Million Franken aus Darlehen und Aktien gründete die Gemeinde eine Praxis, von der Hausärztinnen bis dahin nur träumen konnten: moderne Räumlichkeiten, ein eingespieltes Team, Anschluss an das Ärztenetzwerk Medix, ein guter Lohn. Dazu eine betriebliche Leitung, die einem den Rücken freihält, damit man sich als Ärztin um die Patienten und um gesundheitspolitische Projekte kümmern kann.

Und vor allem: ohne finanzielle Daumenschraube. Sprich: ohne vorgegebene Umsatzzahlen. 2024 wurde die Praxis eröffnet, 1300 Patientinnen und Patienten sind bis heute registriert. Noch können neue aufgenommen werden. «Wir sind zufrieden», sagt Gemeindepräsident Budmiger. «Das ist erst der Anfang», erwidert Ärztin Gantner.

Das eingespielte Team in der Hausarztpraxis Muri Freiamt hält Ärztinnen und Ärzten den Rücken frei.
Foto: Samuel Schalch

Damit hat sie recht. Gesundheitsökonomin Annamaria Müller warnt vor einem Tsunami, der auf die Grundversorgung zukommt (siehe Interview). In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird mehr als die Hälfte der praktizierenden Hausärzte in Pension gehen. Die Patienten werden im Gegenzug älter und kränker und sind immer mehr auf eine gute Grundversorgung angewiesen. «Ohne Hausärztinnen, die als Hub in der Gesundheitsversorgung funktionieren, haben wir in der Schweiz zwar qualitativ hochwertige Behandlungen, aber insgesamt eine schlechte Medizin», sagt Müller.

Ländliche Gebiete sind die Verlierer

Weshalb fehlen die Hausärztinnen? Die neue Generation hat wenig Lust, unter den alten Bedingungen zu arbeiten. Eine 70-Stunden-Woche, nicht kostendeckende Tarife, das Risiko eines eigenen Geschäfts. Es braucht einen Wandel. Doch zu lange wurden gute Lösungen von Einzelinteressen in der Politik und im Gesundheitswesen blockiert. 

Die Verlierer sind die ländlichen Gebiete. Unter Zugzwang entstehen dort Modelle, die den Mangel abfedern sollen. Sie versprechen, ähnlich wie in Muri, weniger Belastung, weniger Risiko. Zum Beispiel Gemeinschaftspraxen, die als Genossenschaften organisiert sind. Sie stellen Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung und erleichtern damit gerade jungen Ärztinnen den Berufseinstieg. Eine der ersten dieser Genossenschaftspraxen in der Schweiz wurde 2012 in Ebnat-Kappel eröffnet. Ähnlich organisierte Praxen gibt es auch in Flühli im Kanton Luzern oder im oberen Emmental.

Kein Wundermittel

Auch im Wallis, im Goms, mussten neue Wege gefunden werden. Dieses Jahr hätte ein neues Gesundheitszentrum gebaut werden sollen, finanziert von einer extra dafür gegründeten Stiftung. Eine Beschwerde gegen den Bauentscheid brachte aber das Projekt und damit auch die Gesundheitsversorgung in der Region zum Straucheln. Wie es weitergeht, ist unklar.

Eine medizinische Praxisassistentin misst den Blutdruck einer Patientin.
Foto: Samuel Schalch

Das zeigt: Ein Wundermittel gegen den Fachkräftemangel sind diese Projekte nicht. Letztlich scheitern viele aus dem gleichen Grund, aus dem sie auch entstanden sind: Es mangelt an Hausärztinnen. So schloss 2024 zum Beispiel die genossenschaftlich organisierte Praxisgruppe Südland Bern – 2018 gegründet, um Landpraxen zu erhalten –, weil zu wenig ärztliches Personal gefunden wurde.

«Wir sind keine typische Investorenpraxis»

Wie plant das Pilotprojekt in Muri, diese Hürde zu überwinden? «Indem wir den Nachwuchs zu uns holen und zeigen, wie viel Spass und Sinn die Hausarztmedizin machen kann. Wenn die Bedingungen stimmen.» Das sagt Judith Melchers, die ärztliche Leiterin der neuen Praxis Muri Freiamt. Sie glaubt an das Murianer Projekt, hat dafür sogar ihre eigene Hausarztpraxis in der Nähe von Bielefeld aufgegeben und ist mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in die Schweiz gezügelt.

Hausärztin Judith Melchers leitet die Praxis Muri Freiamt und ist dafür von Deutschland in die Schweiz gezügelt.
Foto: Samuel Schalch

«Wir sind keine typische Investorenpraxis», sagt Melchers. Klar funktioniere es auch hier nicht nur «mit Luft und Liebe». Aber sie habe als ärztliche Leitung den Raum, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern: um die Patienten und die Zukunft der Hausarztmedizin. Die Praxis ist nicht nur Ausbildungspraxis der Universitäten Zürich, Bern und Basel. Sie bildet ab Herbst auch eine angehende Fachärztin für innere Medizin zur Hausärztin aus. Solche Weiterbildungsplätze in Hausarztpraxen sind ein wichtiger Schritt, um junge Ärztinnen in den Beruf zu locken. 

Zudem arbeitet seit April Sarah Warthmann, eine Advanced Practice Nurse (APN), neben Melchers und ihren Kolleginnen in der Praxis. APNs sind Pflegefachfrauen mit einem Masterstudium. Sie können die Hausärztinnen vor allem in der Begleitung chronisch Kranker entlasten sowie bei den Hausbesuchen.

Sarah Warthmann (rechts, mit Ärztin Judith Melchers) ist Advanced Practice Nurse – sie macht auch Hausbesuche bei chronisch Kranken.
Foto: Samuel Schalch

Externe Firma kümmert sich ums Administrative

Den Raum, um die neue Praxis in die Zukunft zu tragen, verdankt Judith Melchers hauptsächlich Fabian Müller. Der 38-jährige Betriebsökonom verantwortet die betriebliche Leitung der Praxis. Seine Firma Docteam kümmert sich um alles Nichtmedizinische – etwa die Buchhaltung, die Lieferanten, die Infrastruktur. Das verschafft Melchers Zeit, die anderen Hausärztinnen vielfach fehlt.

Betriebsökonom Fabian Müller kümmert sich um alles «Nichtmedizinische» in der Praxis.
Foto: Samuel Schalch

Denn die Anforderungen sind extrem gestiegen. Mehr Patienten, mehr administrative Arbeit. Und man sollte sich theoretisch auch noch darum kümmern, dass das nationale Gesundheitsziel der «integrierten Versorgung» umgesetzt wird. Integrierte Versorgung, das ist die Medizin als Dorf gedacht: ein Dorf, in dem jeder jeden kennt und alle mit allen über alles reden, damit jeder weiss, was gerade Sache ist. Eine Netzwerkarbeit, die bei den Hausärztinnen anfängt. «Doch auch unser Tag hat nur 24 Stunden, und zu Hause wartet die Familie», sagt Ärztin Melchers. 

Wer rettet die Grundversorgung?

Es hängt viel an der Hausarztmedizin. Das nächste Kapitel wird entscheidend sein. Im allerbesten Fall ist der Mangel Katalysator für regionale Versorgungslösungen. Das Pilotprojekt in Muri ist ein Beispiel dafür. Doch «gerettet» ist die Grundversorgung im Freiamt noch lange nicht. «Um sie nachhaltig zu erhalten, müssen alle zusammenspannen», sagt Gemeindepräsident Budmiger. 

Als Symbol dafür besitzen neben der Gemeinde Muri auch der Verein Pflegi Muri, das Spital Muri und mehrere Nachbargemeinden Aktien der Hausarztpraxis Muri Freiamt, weitere sind Darlehensgeber. Aber wie Verwaltungsrätin Gantner sagt: Das ist erst der Anfang. 

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