Darum gehts
- Zehnjähriger schlägt Elfjährigen im Bus bewusstlos, Opfer ins Krankenhaus eingeliefert
- Täter entschuldigt sich bei Opferfamilie, Mutter erstattet dennoch Anzeige
- Selim K. erhält befristetes Schulverbot und muss einen Monat mit Velo fahren
War es blinde Wut? Oder die viel zu heftige Reaktion auf eine Beleidigung? Was auch immer sich am Montag in Dottikon AG in einem Postauto abspielt, ist eine Tat, die auch Tage später noch schockiert. Selim K.* (10), ein Fünftklässler, geht im Bus auf Schüler Ilias M.* (11) los und schlägt ihn bewusstlos.
Immer wieder tritt und schlägt der Bub auf den Kopf seines Opfers ein, traktiert mit seinem Ellbogen dessen Rücken. Das Opfer bleibt liegen. Erst ein paar Haltestellen weiter wird Ilias von einem Vater und dessen Tochter aus dem Bus getragen.
Es handelt sich um Zamir E.* und seine Tochter Sara*, die eine Schulkollegin des Opfers ist. Sara schildert die aufgeheizte Stimmung im Bus. Es habe mit Beleidigungen angefangen, dann habe sich die Situation hochgeschaukelt. «Alle Kinder haben gelacht und schrien: Streit.» Dann habe Selim K. zugeschlagen.
An der Haltestelle wartet ihr Vater Zamir E. Wie immer will er Sara dort abholen. «Ich sah ihr sofort an, dass etwas nicht stimmt, als sie aus dem Bus stieg.» Sie sei in einer Art Schockstarre gewesen, erzählt die 11-Jährige weiter. «Ich sagte nur: Ilias liegt am Boden. Mir fiel das Wort ohnmächtig nicht mehr ein.» Vater und Tochter steigen ins Auto und fahren dem Postauto hinterher, bis sie es an der Haltestelle «Dottikon, Chrischona» einholen. Sie stützen Ilias beim Aussteigen aus dem Bus. «Er hatte die Augen wieder offen, war aber orientierungslos», so der helfende Vater. «Für mich ist klar, dass ich in solchen Situationen helfe. Wenn Kinder involviert sind sowieso.» Er habe kein Verständnis dafür, dass der Busfahrer einfach weitergefahren sei. «Es waren auch noch drei oder vier andere erwachsene Personen im Bus. Auch von ihnen hat niemand etwas unternommen», sagt er.
Nach der Attacke nahe der Haltestelle «Dottikon, Sternenplatz» muss Ilias eine Nacht im Spital bleiben – mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. Die ganze Szene wird auch auf Video festgehalten, doch zum Zeigen sind die Aufnahmen zu brutal.
Prügel wegen Beleidigung?
Am Freitag trifft Blick die Mutter und den Stiefvater von Selim K. Sie erzählen ihre Sicht, wie es zu der heftigen Attacke kam. «Ilias hat zuerst die Mutter und die Schwester von Selim beleidigt», sagt der Stiefvater. Eine Version, die Ilias dementiert. Allerdings berichtet auch Sara E. von Beleidigungen. «Selim sagte immer wieder stopp, doch der andere Junge machte weiter.»
Daraufhin hat Selim angefangen, Ilias zu schlagen und zu treten. Dann aber habe er vom Opfer ablassen und einen Schritt zurücktreten wollen. Der Stiefvater sagt: «Andere Kinder im Bus haben Selim dann allerdings wieder nach vorne geschubst, damit er weiter prügelt.»
Schockierend: Selim hört erst mit dem Prügeln auf, als Ilias bewusstlos zu Boden sackt. Warum ihr Sohn so reagiert hat, können sich Mutter und Stiefvater nicht erklären. «Er ist eigentlich ein ruhiger Junge, war noch nie in eine Prügelei oder ähnliche Situation verwickelt. Er hat so etwas noch nie gemacht», sagen sie.
Bericht unter Tränen
Allgemein sei es das erste Mal, dass ihre Familie in solch eine Situation verwickelt worden sei. Die Mutter und Selim K. sind erst vor einem Jahr aus der Türkei in die Schweiz gekommen.
Auch in der Türkei sei nie ein solcher Vorfall passiert, der Junge sei immer friedlich gewesen. Seit seiner Ankunft in der Schweiz besucht der 10-Jährige die normale Schule – obwohl er noch nicht fehlerfrei Deutsch spreche. «Wenn er im Unterricht etwas sagt, lachen seine Mitschüler oft über ihn und seine deutsche Aussprache. Dadurch fühlt er sich oft ausgegrenzt und verhält sich lieber ruhig», so der Stiefvater. Probleme mit anderen Schülern hatte er bisher aber noch nie, wie seine Eltern sagen.
Nach der Busfahrt habe Selim sofort seine Mutter angerufen und ihr unter Tränen erzählt, was passiert sei. Am Tag danach seien sie zusammen mit dem Sohn zur Familie des Opfers gefahren und hätten sich entschuldigt. «Wir haben Blumen für die Mutter und ein Spielzeug-Auto für Ilias mitgebracht», erzählt der Stiefvater. Das Gespräch sei gut gewesen, die Familie habe die Entschuldigung akzeptiert.
Darum habe es ihn überrascht, dass die Mutter von Ilias dennoch Anzeige erstattet habe. «Das sind doch noch Kinder. Unser Sohn hat zum ersten Mal so etwas gemacht.» Wenn er bereits mehrmals so etwas gemacht hätte, würde er diesen Schritt verstehen. Letztlich hätten sich die anderen Eltern aber so entschieden, was er akzeptiere.
Strafe muss sein
Auch seine Mutter will Selim bestrafen. Mit Handy- und Busverbot: «Wenn er wieder zur Schule geht, muss er einen Monat lang mit dem Velo zur Schule – bei jedem Wetter – und darf nicht mehr den Bus nehmen», sagt sie und fügt an: «Es tut uns sehr leid und im Herzen weh, was passiert ist.»
Nach dem Vorfall hat Selim K. für befristete Zeit ein Schulverbot erhalten. Aktuell sei er deshalb bei seinem Onkel in Mulhouse (F), so die Mutter. Am nächsten Dienstag entscheidet die Schule, wann er wieder am Unterricht teilnehmen darf. Die Rückkehr mache dem Fünftklässler aber Sorgen. «Er hat Angst, dass viele seiner Freunde nicht mehr mit ihm befreundet sein möchten», sagen die Eltern.
* Namen geändert