«Rehabilitation macht Sinn, aber nicht für Opfer-Familie»
1:50
Blick-Reporterin zu Berikon AG:«Mandys Eltern fragen sich: ‹Wo bleibt die Gerechtigkeit?›»

Kritik am Schweizer Jugendstrafrecht
14-Jährige tötete Mandy (†15), ihr drohen drei Tage Strafarbeit

Nach dem tragischen Tod der 15-jährigen Mandy in Berikon AG klagt ihre Mutter die Behörden an. Experten verteidigen jedoch das Schweizer Jugendstrafrecht und betonen dessen Fokus auf Resozialisierung statt Bestrafung.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: vor 11 Minuten
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Mandy* (15) wurde in Berikon AG mutmasslich von ihrer Freundin erstochen. Ihr Mutter klagt an: «Wir fühlen uns von der Schweiz im Stich gelassen!»
Foto: Helena Graf

Darum gehts

  • Jugendstrafrecht fokussiert auf Resozialisierung, nicht primär auf Bestrafung
  • Experten betonen Wichtigkeit von Prävention, Therapie und sozialer Betreuung
  • In den letzten 15 Jahren gab es nur vier Fälle dieser Art
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Sebastian BabicReporter Blick

Gabriela M.* (45), die Mutter der in Berikon AG getöteten Mandy* (15) klagt im Blick die Behörden an: «Wir fühlen uns von der Schweiz im Stich gelassen!» Laut Gesetzgebung drohen der 14-jährigen, mutmasslichen Täterin Annina B. nämlich nur einige Tage gemeinnützige Arbeit und ihren Eltern eine maximale Genugtuungszahlung von 10’000 Franken. Eine verschwindend kleine Strafe für ein Kapitalverbrechen, das ein junges Mädchen aus dem Leben gerissen hat. Aktuell wird die mutmassliche Täterin in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung behandelt.

Ist die Schweizer Justiz bei Verbrechen zwischen Jugendlichen zu lasch? «Nein!», betonen zwei ausgewiesene Experten. Im Jugendstrafrecht gehe es um Resozialisierung und nicht primär um Bestrafung.

«Als Vater einer 13-Jährigen machte mich diese Geschichte unheimlich betroffen», sagt Dirk Baier (48), Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften unumwunden. «Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn meine Tochter Opfer, aber auch Täterin eines solchen Delikts wäre.» Nichtsdestotrotz hält der Experte nüchtern fest: «Es ist ein Tötungsdelikt geschehen, das uns alle hoch emotionalisiert hat. Emotionen sind aber ein schlechter Ratgeber für die Bewertung von Gesetzen.» Fakt sei: In den vergangenen 15 Jahren gab es nur vier Fälle dieser Art.

Prävention wirkt besser als Abschreckung

Patrik Killer (51) ist der Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Jugendstrafrechtspflege und leitet die Jugendanwaltschaft in Zürich. Er ergänzt: «In solch einem jungen Alter liegt der Fokus der Strafverfolgungsbehörden auf Schutzmassnahmen, nicht auf Strafe.» Höhere Strafmasse wirkten nicht abschreckend: «Jugendliche handeln oft impulsiv. Viele schwere Taten werden von Ersttätern begangen, oft im Rahmen von schweren Belastungssituationen. Wir müssen früher ansetzen, mit Prävention, Therapie und sozialer Betreuung.»

Versagen diese Massnahmen und es kommt zu einem schweren Delikt, versucht man die jungen Täterinnen und Täter wieder in die Gesellschaft zu integrieren – mit sogenannten Schutzmassnahmen, wie ambulanten Therapien. Baier betont: «Der Weg zurück verläuft nicht über ein Fernhalten von der Gesellschaft.» Im Gegenteil. Die Strafverfolgung bei Jugendlichen sei ein hochkomplexer Prozess: «Möglich ist auch eine jahrelange Fremdunterbringung in einer geschlossenen Einrichtung.»

Killer bestätigt: «Ein solches Vergehen kann zu einer geschlossenen Unterbringung bis zum 25. Lebensjahr führen. Das ist faktisch wie Gefängnis, nur mit Fokus auf Therapie, Schulung, Ausbildung. Viele Jugendliche empfinden dies als strenger als ein Jugendgefängnis», da man sich mit sich selbst auseinandersetzen müsse und die Strafe nicht einfach «absitzen» könne.

Opfer müssen unterstützt werden

Verglichen mit benachbarten Ländern, wie Österreich oder Deutschland, sei das Jugendstrafrecht hier erfolgreicher und – speziell bei den 10- bis 14-Jährigen – auch strenger, sagt Killer: «In der Schweiz ist man bereits ab 10 Jahren strafmündig.» Pro Kopf komme es in der Schweiz zu deutlich weniger schweren Straftaten von Jugendlichen unter 15 Jahren.

Die Mutter des Opfers in Berikon fühlt sich von den Behörden in Stich gelassen. Baier betont in diesem Kontext: «Es ist wichtig, dass die Opfereltern die Unterstützung schnell erhalten, die sie brauchen. Ich spreche von psychologischer Beratung, von einem Rechtsbeistand.» Killer ergänzt: «Sie können unentgeltliche Rechtsvertretung beantragen und Opferhilfe in Anspruch nehmen.»

Unabhängig vom aktuellen Fall wird in Bern über eine Verschärfung des Jugendstrafrechts diskutiert. Der Nationalrat will, dass bei schweren Verbrechen künftig unbedingte Strafen gegen Jugendliche ausgesprochen werden können.

Baier richtet darum auch einen Appell an die Politik: «Wenn Politiker etwas wirklich Wirksames tun wollen, sollten sie nicht im Strafgesetzbuch die Strafandrohung erhöhen, sondern einerseits die Opferhilfe weiter verbessern, und anderseits die Prävention stärken.»

* Namen geändert

«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»
0:30
Georg (77) aus Berikon:«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»
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