Keine Lust auf Sex
Dicke Luft im Schlafzimmer

Frauen trauen sich heute eher, ihren Partner mit seinen Avancen auflaufen zu lassen, wenn sie selbst keine Lust auf Sex haben. Viele haben dabei ein schlechtes Gewissen. Muss das sein?
Publiziert: 14.06.2025 um 19:14 Uhr
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Aktualisiert: 15.06.2025 um 14:13 Uhr
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In unserer Umfrage schreibt eine Frau: «Wenn ich ihn abweise, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil es Frauen wohl so eingetrichtert wird, dass Männer ein Anrecht auf Sex haben.»
Foto: Getty Images/PhotoAlto

Darum gehts

  • 60 Frauen beantworteten tabulosen Fragebogen
  • Frauen fühlen sich oft verpflichtet, sexuelle Avancen zu erwidern
  • Mangelnde sexuelle Lust ist die häufigste Störung bei Frauen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

«Als Frau fühlt man sich immer etwas in der Bringschuld, man fühlt sich schlecht, weil man den anderen nicht verletzen will.» Diese Aussage macht eine 50-jährige Frau in einer 30-jährigen Beziehung.

Wir haben Frauen zwischen circa 30 und 55 in langjährigen heterosexuellen Partnerschaften intime Fragen gestellt. Wir wollten wissen, wer öfter den Sex initiiert, ob die Frauen sexuelle Avancen des Mannes gelegentlich ablehnen und wie sie sich dabei fühlen. Der Link zur anonymen Befragung, den wir an einige Kontakte verschickt hatten, machte die Runde – am Schluss hatten wir Antworten von rund 60 Frauen.

34 von ihnen geben an, dass der Partner öfter den Sex initiiert. 12 ergreifen selbst häufiger die Initiative, und bei 6 ist es ausgeglichen. Manche haben gar keinen Sex mehr oder fixe Sex-Dates. Steigen die Frauen nicht auf Avancen ein, reagieren manche Partner verständnisvoll, andere vorwurfsvoll.

Das führt bei vielen Paaren zu dicker Luft im Schlafzimmer. Unter der Situation leiden potenziell beide. Bei der Frau kommt aber noch ein schlechtes Gewissen obendrauf.

«Es wird Frauen eingetrichtert, dass Männer ein Anrecht auf Sex haben»

Dass Sex zu einer Ehe (sprich: zu einer Beziehung) gehört, ist gesetzlich nirgends festgehalten. Bis 1992 war das Schlafzimmer aber ein sozusagen rechtsfreier Raum, der dem Mann viel Macht gab: Eine Vergewaltigung in der Ehe war bis dahin in der Schweiz nicht strafbar. Und erst ab 2004 wurde diese zum Offizialdelikt, das von Amtes wegen verfolgt werden musste.

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Doch die Idee, dass Frauen den sexuellen Bedürfnissen ihres Gatten Folge zu leisten haben, sitzt noch in den Köpfen. Nicht nur in dem des Richters, der laut «NZZ» 2008 einer Klägerin, die Vergewaltigung in der Ehe geltend machte, zu verstehen gab, dass zu einer intakten Ehe die Sexualität dazugehöre.

Auch in den Köpfen vieler Frauen hat sich diese Vorstellung festgesetzt. Zwei Drittel der Frauen, die an der Umfrage teilnahmen, haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie die sexuellen Avancen ihres Partners nicht erwidern. Eine 45-Jährige, die seit 25 Jahren mit demselben Mann das Bett teilt, schreibt: «Ich fühle mich unter Druck, weil ich weiss, dass Sex ihn beruhigt und ihm guttut und ich so gesehen für seine Regulation verantwortlich bin.»

Und eine 37-jährige Mutter eines zweijährigen Kindes schreibt: «Wenn ich ihn abweise, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil es Frauen wohl so eingetrichtert wird, dass Männer ein Anrecht auf Sex haben.»

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«Ich finde es problematisch, dass Frauen ihren Körper ohne Genuss hergeben.»
Dania Schiftan, klinische Sexologin
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Therapeutin sieht fehlende Lust als Hauptthema in langen Beziehungen

Wie häufig wohl Frauen mit ihrem Partner ohne Lust Sex haben? Psychotherapeutin und Sexologin Dania Schiftan weiss aus ihrer Sprechstunde, dass es mit der Selbstbestimmung im Schlafzimmer teils nicht so weit her ist. Der soziale Druck lässt sich halt nicht so leicht abstreifen wie ein BH-Träger von der Schulter.

Glaubenssätze wie, dass ein Mann Sex brauche oder dass er seine Frau verlassen könnte, wenn sie seine Bedürfnisse nicht befriedigt, führen dazu, dass sich manche Frauen sagen, es sei «einfacher, ihn drüber zu lassen», wie es Schiftan ausdrückt. Sie stehen dem Mann also sexuell zur Verfügung, obwohl ihnen nicht danach ist.

«Ich finde es problematisch, dass Frauen ihren Körper ohne Genuss hergeben. Aber speziell schlimm ist es für Frauen, die leiden und es dennoch tun», sagt Schiftan. Die Therapeutin stellt fest: «Fehlende Lust hat sich für mich als Hauptthema bei Frauen in langen Beziehungen herauskristallisiert.»

Stimmt mit der Frau etwas nicht, wenn die Lust fehlt?

Das sexuelle Bedürfnis des Mannes gilt als Norm. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Will die Frau den Sex nicht, fehlt ihr wohl etwas. So schreibt eine 36-Jährige in der Umfrage: «Ich denke manchmal, dass mit mir etwas nicht stimmt.»

Gynäkologin und Sexualmedizinerin Eliane Sarasin (60) passiert es immer wieder, dass Patientinnen in ihrer gynäkologischen Sprechstunde beim Herausgehen das Thema Lustlosigkeit anschneiden. So schnell, schnell, ganz nebenbei. Als wäre es nicht wichtig oder beschämend. «Dabei ist ‹mangelnde sexuelle Lust› die häufigste Störung bei Frauen», sagt Sarasin. Von einer behandlungsbedürftigen sexuellen Funktionsstörung spricht man dann, wenn die mangelnde sexuelle Lust sechs Monate oder mehr andauert und wenn die Frau dies als belastend empfindet.

Der Frau fehlt nicht zwingend etwas, wenn sie kein sexuelles Bedürfnis verspürt. Meist ist es das unterschiedliche Begehren im Paar, das der Frau den Leidensdruck verursacht. Sarasin sagt: «Viele Frauen mit Lustproblemen fühlen sich so in die Enge getrieben, oft auch von den eigenen Erwartungen oder denjenigen des Partners, dass sie gar nicht mehr über ihre Wünsche nachdenken können. Oft fühlen sie sich schuldig und als ursächlich für eventuelle Spannungen in der Beziehung.»

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«Wenn das Leben schwierig wird, ist oft die Sexualität etwas vom Ersten, was Frauen über Bord werfen.»
Eliane Sarasin, Sexualmedizinerin
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Männer sehen Sexualität als Grundbedürfnis, Frauen verdrängen sie bei Stress eher

Betroffen sind am häufigsten Frauen zwischen 40 und 50. Gründe für die fehlende Lust können biologisch, sozial oder psychologisch sein, häufig ist es ein Mix davon. Sarasin beginnt aufzuzählen. Krankheiten generell, hormonelle Störungen respektive Umstellungen, aber auch Erschöpfung, Stress, ein volles Leben, kleine Kinder, die immer an einem hängen, grosse Kinder, die nachts noch im Haus herumtigern, mentale Belastungen, Sorgen, das Gefühl, allen genügen zu müssen, und so weiter. Eine 37-jährige Mutter eines zwei- und fünfjährigen Kindes schreibt in unserem Fragebogen: «Ich bin müde, er meint, ich sei immer müde. Die Stimmung ist am Boden.»

Sarasin weiss: «Wenn das Leben schwierig wird, ist oft die Sexualität etwas vom Ersten, was Frauen über Bord werfen.» Der Mann funktioniere meist anders: «Männer haben dieses Bedürfnis viel fester verankert als Frauen. Bei ihnen gehört Sexualität eher zu den Basisbedürfnissen wie Essen und Trinken.»

Wichtig ist also, zu unterscheiden, ob ein allfälliger Leidensdruck der eigene ist oder der des Partners. Vermisst die Frau wirklich selbst die verloren gegangene Lust oder sind mehr Spannungen durch die Unzufriedenheit des Partners im Vordergrund?

Kann die Ärztin ein medizinisches Problem als Ursache der fehlenden Lust ausschliessen und hört sie von der Frau etwas in Richtung: «Ich habe so viel um die Ohren, Sexualität hat fast keinen Platz, ich möchte einfach nur schlafen», dann gibt sie ihr zu verstehen, dass die Unlust wohl eine adäquate Reaktion auf die derzeitige Überlastungssituation ist.

Hat die Frau den Sex, der ihr gefällt?

Psychotherapeutin Dania Schiftan bringt noch einen anderen Blickwinkel ein: Wenn die Frau keine Lust hat auf Sex, heisse das, dass sie davon nicht unbedingt profitiert. «Wenn man beim Sex einfach mitmacht und gar nicht weiss, wie der Sex sein müsste, dass er mir gefällt, dann ist es schlauer vom Körper, zu sagen: Lass es einfach.» Die Sexologin sagt auch, es sei okay, wenn Sex gar kein Thema mehr ist in einer Partnerschaft. «Es steht mir nicht zu, das zu verurteilen.»

Aus sexualmedizinischer Sicht gibt es weder eine Regel, wie oft man Sex in einer Partnerschaft haben soll, noch muss regelmässiger Sex ein Garant für eine glückliche Beziehung sein. «Wichtig ist, dass man als Paar einen Umgang mit Intimität und Sexualität findet, der für beide stimmt», sagt Sarasin.

Sex zu haben, ist aus Sicht der Expertinnen also kein Muss. Und doch: Frauen verpassen etwas, wenn sie sich nicht selbst als sexuelles Wesen erkunden. Eine Reise übrigens, die sie gut alleine antreten können. Dania Schiftan leitet in ihren Büchern Frauen an, ihren Körper zu entdecken, zu üben, zu sensibilisieren. «Ich zeige, wie Frauen den Sex so verändern können, dass er zur Ressource wird.» Schiftan zieht Sport als Vergleich heran. Wer regelmässig rennt, wird etwas vermissen, wenn die Joggingrunde ausfällt. «Sport dient der Regulierung. Über Sex kann ich mich ebenso regulieren.»

Dies mag einleuchten – doch was, wenn die Lust auf Paar-Sex sich trotzdem nicht einstellt? «Um Himmels willen: Dann keinen Sex haben!», sagt Dania Schiftan.

Ein Versuch: Sich aufs Liebesspiel engagiert einlassen

Hilfreich kann diese Einsicht sein: Mann und Frau funktionieren anders. Eher linear der Mann, eher zirkulär die Frau. Bei ihm kommt zuerst das Verlangen nach Sex, die Erregung ist nachgeschaltet. Bei vielen Frauen hingegen kommen Lust und Erregung erst während des Sex: Wie Eliane Sarasin gemeinsam mit ihrer Kollegin Brigitte Leeners in einem Fachartikel ausführt, ist die sexuelle Lust für viele Frauen Teil eines zirkulären Ablaufs. Sie gehen oft eine sexuelle Begegnung ein, ohne eigentlich primär Lust zu haben, sondern mehr aus Wunsch nach Nähe oder zur Beziehungserhaltung. Die Lust stellt sich dann erst während des Sex ein, also gleichzeitig zur Erregung, ganz im Sinne von «mit dem Essen kommt der Appetit».

Dania Schiftan zieht ein weiteres Bild zum Vergleich heran: Wer sich an einer Party in die Mitte der Tanzfläche begibt und sich versuchsweise zehn Minuten voll reingibt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit einen besseren Abend verbringen als die Person, die zurückhaltend am Rand stehen bleibt. Dasselbe könnten Frauen in Bezug auf Sex versuchen, empfiehlt die Sexologin: «Versuche zehn Minuten engagiert in Stimmung zu kommen, beweg dich, stöhne, streichle.» Dann solle man entscheiden, ob man weitermachen will.

Ein Liebesspiel kaltblütig abbrechen? Kein Problem, findet Schiftan. «Ob Ausflug, Essen oder Sex: Man kann immer umkehren, man kann immer abbrechen.» Wer sich diese Möglichkeit nicht offenlässt, wer sich und seine Bedürfnisse übergeht, wird sich als Konsequenz irgendwann schützen wollen – und sich gar nicht mehr auf die Situation einlassen. Deshalb: Lieber abbrechen, wenn sich die Lust nicht einstellt. Und zwar ohne schlechtes Gewissen. Ohne Schuldgefühle. «Frauen müssen sich nicht verteidigen, wenn sie keine Lust haben. Und sie sind auch nicht verantwortlich für die Emotionen ihres Partners. Das wäre ein überhöhter Anspruch.»

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