Er raucht seit knapp fünf Jahren Crack. «Aus posttraumatischen Gründen», sagt Marcel W.* (49). Von welchem Trauma er spricht, will er nicht verraten. Dann packt W. eine kleine Pfeife aus und erklärt, wie er den Stoff aufbereitet, wie er «das Zeugs» inhaliert. «Wenn ich Crack rauche, ist der Tag gerettet.» Wenn er nicht konsumiert, fühle er sich mutlos, kraftlos, emotionslos. «Es fällt mir dann schwer, im Leben mitzuhalten.» Das öffentliche Drogenelend auf Schweizer Strassen ist zurück.
Mancherorts hat sich der Konsum psychoaktiver Substanzen verdreifacht, wie die jüngsten Daten über Rückstände im Abwasser zeigen. Neben Zürich gehören Olten SO, Basel, Chur und Genf zu den aktuell grössten offenen Drogenszenen der Schweiz. Im Kampf gegen den Drogenkonsum hat die Stadt Zürich Anfang Oktober eine neue Anlaufstelle für Crack-Süchtige eröffnet.
Im Einsatz für Menschen in Not
Ein Werktag in Zürich, es ist kurz nach neun Uhr: An der Selnaustrasse stehen zwei unscheinbare Menschen in ähnlicher Kleidung. Schwarze Jacke, Bauchtasche, Jeans. Nur ein Schriftzug auf dem Rücken verrät, wer sie sind: Sip Züri, Sozialarbeiter auf den Strassen der Grossstadt. Sip steht für Sicherheit, Intervention, Prävention. Sie gehen auf Menschen in sozialen Notsituationen zu, bieten Beratung, Vermittlung und Krisenbewältigung. Für Milos Micanovic und Alexandra Neumann beginnt der Arbeitsalltag.
Alles, was sie brauchen, haben sie in ihren Bauchtaschen: Dokumente, Pflaster, Handschuhe, Notfallset und Spritzenzange. Die beiden steigen in einen Kastenwagen. Fünf Minuten Fahrt, dann: «Stopp: Zeughaushof.» In der Szene ist die Anlage als Treffpunkt bekannt, wo Süchtige konsumieren. Die Sozialarbeiter gehen über das Areal, scannen den Boden nach Anzeichen, dass der Platz noch genutzt wird: Nadeln, Alufolie, leere Behälter. «Sauber», ruft Neumann nach ein paar Minuten. «Nichts zu finden.» Auch von Hilfsbedürftigen keine Spur.
Hilfe direkt vor Ort
Weiter geht es in Richtung Langstrasse. Zu Fuss. Micanovic und Neumann haben einen kleinen Platz erreicht, eingequetscht zwischen zwei Wohnblöcken: kaputte Haushaltsgeräte, Graffitis an den Wänden, überall Müll. Neumann bleibt stehen. Sie hat einen Mann mit eingefallenen Wangen im Blick, eine Hand in der Tasche vergraben, die andere am Lenker seines Fahrrads. «Ist alles in Ordnung, brauchen Sie etwas?», fragt die Sozialarbeiterin vorsichtig. Der Blick des Angesprochenen wandert unruhig hin und her, dann antwortet er leise. Was er sagt, ist kaum zu verstehen.
«Wir schauen nur, ob alles in Ordnung ist – ob jemand Hilfe braucht», sagt Neumann. Allmählich wird klar: Der Mann sucht Arbeit. Neumann nennt eine Anlaufstelle. Ob Drogensüchtige oder nicht, die Sozialarbeiter helfen allen Randständigen, auf die sie stossen. Zumindest mit Beratung.
«Werde wohl konsumieren, bis ich sterbe»
Es regnet, das Thermometer zeigt acht Grad. «Los, weiter!», ruft Micanovic. Zehn Minuten geht es durch die Innenstadt, bis Mauro (55) auftaucht. Er scheint die Sozialarbeiter zu kennen. Kaum stehen sie vor ihm, beginnt er ungefragt zu erzählen. Mauro konsumiert Crack, «seit vielen Jahren». Wenn man einmal damit begonnen habe, sei es schwierig. «Ich habe aufgegeben, den Konsum zu stoppen.» Mauro wird still. Schliesslich, mit leiser Stimme: «Ich werde wohl konsumieren, bis ich sterbe.» Sein Blick wandert zu den Sozialarbeitern: «Aber ich bin froh, dass es Sip Züri gibt.» So etwas brauche es. «Die machen das gut.» Aber heute braucht Mauro keine Hilfe. Vielleicht einfach nur jemanden zum Reden.
Weiter geht es zur Bäckeranlage. Ein kalter Wind zieht auf. Neumann stoppt: «Milos, da liegt jemand.» Eine Gestalt im Park, eingewickelt in einen Schlafsack, halb verdeckt von Sträuchern. «Hallo? Können Sie mich hören?» Ein leises Murmeln durch den Stoff. «Bitte kurz aufsitzen, die Sip ist da.» Langsam richtet sich der Mann auf, die Augen halb geschlossen. «Ist alles okay?» Kurzes Nicken.
Die Sozialarbeiter erklären, wo man sich aufwärmen und unterkommen kann. Wortkarg steht der Mann auf, zieht den Schlafsack enger an den Körper und trottet davon. «Es ist wichtig, dass niemand erfriert», sagt Neumann. «Im Winter gibt es Sonderschichten.» Dann sucht das Team gezielt Menschen auf, die im Freien übernachten. Leider kommen nicht alle in die Notfallstellen. «Sie wollen mit dem System nichts zu tun haben.» Anderen fällt es schwer, mit Fremden in geschlossenen Räumen zu schlafen.
«Es ist ein Fluch»
Beim Kasernenareal erblickt die Sip-Patrouille schon von Weitem ihren nächsten Fall: knallrote Hose, leuchtend pinkfarbener Hut, auffällige Ringe und Halsketten. Der Mann stellt sich als Daniel M.* (59) vor. Er konsumiere Freebase. «Das ist in Zürich verbreiteter als Crack.» Freebase ist die ursprüngliche, chemisch reine Form von Kokain, Crack eine billigere Variante, die leichter herzustellen ist. Er kenne viele, die wegen Drogen gestorben sind, berichtet M.: «Ich bin in dieser Szene gross geworden.» Das erste Mal habe er auf dem Platzspitz konsumiert, 1989. «Ich war lange heroinsüchtig.»
M. wühlt in seiner Tasche. «Ah, hier ist sie.» Bereitwillig zeigt er seine Pfeife, darin das noch übrige, angekokelte Base. In letzter Zeit habe der Konsum in der Stadt zugenommen, sagt er, die Szene sei aggressiver geworden. Die Droge, verhältnismässig günstig, mache extrem schnell süchtig, sei aber sehr beliebt. «Wenn man es raucht, hebt man ab – und wenn man damit beginnt, ist man dem Teufel auf dem Karren. Es ist ein Fluch.»
Zwischen Sucht und Hoffnung
Am Ende ihrer Arbeitszeit begegnen Neumann und Micanovic, ebenfalls auf dem Areal der früheren Kaserne, Marcel W. Er ist der Mann, der sagt, Crack «aus posttraumatischen Gründen» zu rauchen. «Ich möchte unbedingt damit aufhören», erklärt er. «Unbedingt. Es muss weg. Irgendwie.» W. wünscht sich ein eigenes Zuhause. Aktuell lebt er in einer betreuten Wohnsituation. «Ich versuche, an eine Drogentherapie heranzukommen.» Diesmal sei er motiviert. «Wenn ich ein Programm finde, ziehe ich es durch.» Die Sozialarbeiter empfehlen auch ihm eine Anlaufstelle. Dann verabschieden sie sich.
Auf dem Rückweg sagt Neumann: «Das Schwierigste an diesem Beruf ist das Aushalten.» Mit der Zeit kenne man einige Leute und baue eine Verbindung mit ihnen auf. «Teilweise geben sie körperlich und psychisch immer mehr ab.» Das sei eine schwierige Herausforderung. «Man ist dabei, begleitet sie auf ihrem Weg und versucht, ihnen ein möglichst würdiges Leben zu ermöglichen.»
* Name geändert