Darum gehts
- Andreas Rubin hat Trisomie 21 und kämpft für die politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Rund 16'000 volljährige Schweizer sind derzeit vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie eine umfassende Beistandschaft haben
- Ständerat entscheidet in der Herbstsession über inklusives Stimmrecht
Andreas Rubin ist Poet. Er ist Aktivist. Und er hat Trisomie 21. Hinter seiner runden Brille blitzen wache, blaue Augen hervor. Er empfängt in seiner Wohnung im bernischen Heimberg, wo er mit Assistenz und zwei Mitbewohnern lebt. «Ich bin ein Ur-Heimberger», sagt Rubin. Hier ist der 38-Jährige geboren und aufgewachsen, seine Eltern leben in der Nähe.
Rubin tritt mit seinen Texten und Gedichten auf. Etwa mit diesem: «Ich will, dass du mich so nimmst, so wie ich bin. // Ich bin ein Mensch. // Mit verschiedenen Facetten zu sehen. // Ich will in der Öffentlichkeit selbstbestimmt arbeiten. // Wählen. // Ein selbstbestimmtes Leben führen können.»
Seit rund zehn Jahren engagiert er sich mit seinem Verein «Leben s Sinn» für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. «Wir sind Menschen, die man ernst nehmen muss», sagt Rubin bestimmt. «Dazu gehören auch politische Rechte.»
Ständerat entscheidet über inklusives Stimmrecht
Politische Rechte haben längst nicht alle Menschen in der Schweiz. Wer unter einer umfassenden Beistandschaft steht, also besonders hilfsbedürftig ist, oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten wird, darf weder wählen noch abstimmen. Grundlage dafür ist Artikel 136 der Bundesverfassung, der Personen «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche» vom Ausüben politischer Rechte ausschliesst. Betroffen sind rund 16’000 volljährige Schweizerinnen und Schweizer.
Ein Vorstoss der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats will dies nun ändern. Im Mai sagte die grosse Kammer Ja zur Motion, nachdem der Bundesrat sie zur Annahme empfohlen hatte. In einem Bericht schreibt er, dass der Verfassungsartikel «im Konflikt mit der Rechtsgleichheit und völkerrechtlichen Verpflichtungen» stehe. Damit meint er die Uno-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 unterzeichnet hat.
Nun stimmt der Ständerat in der Herbstsession über den Vorstoss ab. In der zuständigen Kommission wurde die Forderung mit sechs zu drei Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen.
Gegner befürchten Manipulation
Kritische Stimmen kommen vor allem aus dem bürgerlichen Lager. Sie befürchten, dass das Missbrauchspotenzial hoch ist – dass also andere den Stimmzettel anstelle der Betroffenen ausfüllen oder ihre Entscheide manipulieren könnten. Auch monieren Gegner, dass Menschen mit einer umfassenden Beistandschaft nicht urteilsfähig sind und sich somit auch keine eigene politische Meinung bilden können.
«Menschen mit Behinderungen dürfen nicht an strengeren Massstäben gemessen werden als alle anderen», sagt Jonas Gerber von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. Auch jemand, der im Alltag einen erhöhten Unterstützungsbedarf habe, könne sich sehr wohl eine politische Meinung bilden. «Der pauschale Stimmrechtsausschluss basiert auf einem alten Vorurteil und widerspricht unserem Verständnis von moderner Demokratie.»
Auch das Argument eines potenziellen Missbrauchs will Gerber nicht gelten lassen: «Das Missbrauchspotenzial besteht bei verschiedenen Personengruppen gleichermassen, etwa bei Seniorinnen und Senioren.» Umso wichtiger sei deshalb die grösstmögliche Selbstbestimmung bei der politischen Teilhabe. Dafür brauche es insbesondere barrierefrei zugängliche und leicht verständliche Wahl- und Abstimmungsunterlagen.
Informiert dank Umfeld und Zeitungen
Auch Andreas Rubin durfte lange nicht wählen und abstimmen, bis seine Beistandschaft 2013 – mit der Einführung des neuen Erwachsenenschutzgesetzes – geändert wurde. An sein erstes Abstimmungscouvert erinnert er sich noch gut: «Das waren sehr grosse Emotionen, für mich tat sich eine riesige Welt auf.»
Nicht jede Vorlage interessiert ihn. «Bauthemen zum Beispiel.» Neben Inklusion und Gleichstellung beschäftigen Rubin dafür das Klima und die Umwelt umso mehr. Und – weil er eine Zeit lang auf einem Bauernhof gearbeitet hat – liegen ihm auch die Anliegen der Bäuerinnen und Bauern am Herzen. «Vor allem die der Bergbauern, weil sie unter schwierigen Bedingungen produzieren.»
Über Politik spricht er mit seinem Umfeld. Informieren tut er sich auch im Internet, oder er liest Zeitungen. «Aber da sind manchmal Begriffe drin, die nicht einfach sind.»
Stimmcouvert in einfacher Sprache
Zuletzt sammelte Rubin Unterschriften für die Inklusions-Initiative, die mehr Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen fordert. Der Einsatz sei ermüdend, sagt Rubin. Vor allem, weil vieles unnötig kompliziert sei – etwa der Gegenvorschlag des Bundesrats zur Inklusions-Initiative. Der Text sei schwer verständlich. «Leichte und klare Sprache wäre so wichtig für die politische Teilhabe», sagt er.
Erste Bestrebungen in diese Richtung gibt es. So hat zum Beispiel die Stadt Zürich ein Pilotprojekt gestartet: Dem Stimmcouvert liegen neu auch Informationen in leichter Sprache bei. Auch in Genf werden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in leichter Sprache über Vorlagen informiert.
Genf ist Vorreiter
Der Westschweizer Kanton ist zudem Vorreiter: Seit 2020 haben dort Menschen mit Behinderungen auf kantonaler Ebene das aktive und passive Wahlrecht – sie können also wählen, abstimmen und gewählt werden. Im Kanton Appenzell Innerrhoden wurde das Stimmrecht für Menschen mit Beistand in der neuen Verfassung verankert. Und auch in Kantonen wie Bern, Zürich oder Zug laufen Bestrebungen zum inklusiven Stimmrecht.
Rubin gibt sich kämpferisch. Er ist erst zufrieden, wenn alle die gleichen politischen Rechte haben. Bis dahin engagiert er sich weiterhin. «Wir wollen verstanden werden.»