Darum gehts
- Die Schweizer Justiz ist durch Bagatellanzeigen überlastet
- Heute müssen Polizei und Staatsanwaltschaft in jedem Fall aktiv werden
- Ein Chef-Staatsanwalt macht einen brisanten Vorschlag
Ermittler im ganzen Land schlagen Alarm: Strafprozesse ziehen sich über Jahre hin, der Polizei mangelt es an Personal, bei den Staatsanwaltschaften stapeln sich die Akten. Der Justizapparat kommt an seine Grenzen – auch wegen der Flut von Bagatelldelikten, die zu aufwendigen Verfahren führen.
Muss sich die Justiz wirklich mit jeder Strafanzeige beschäftigen? Der Freiburger Generalstaatsanwalt Fabien Gasser (51) bringt nun einen brisanten Vorschlag ins Spiel: «Was uns helfen könnte, wäre ein Ermessensspielraum – damit wir nicht unbedingt alle Straftaten bekämpfen müssen», sagt er zu Blick.
Jede Anzeige muss individuell geprüft werden
Der Vorschlag hat es in sich. Denn laut Strafprozessordnung sind die Ermittler heute verpflichtet, allen potenziellen Straftaten, die ihnen gemeldet werden, auch nachzugehen. Wollte man dies ändern, müsste Artikel 302 der Strafprozessordnung angepasst werden – die Konsequenzen wären weitreichend.
Auf der anderen Seite steht eine Flut an Bagatellfällen, die viel Arbeit verursachen. Denn jede neue Anzeige muss individuell geprüft werden. Auch wenn die Vorwürfe sich ähneln oder es sich um Kleindelikte handelt: Polizei und Staatsanwaltschaft müssen aktiv werden.
«Jede neue Anzeige verursacht immer wieder denselben Aufwand», sagt Simon Kopp, Sprecher der Luzerner Polizei und Staatsanwaltschaft. Zuerst wird die Anzeige erfasst, dann erfolgt eine erste juristische Einschätzung – selbst wenn das Verfahren am Ende eingestellt wird.
Kleinteiliges Anzeigen-Pingpong
Kopp beobachtet seit Jahren eine problematische Entwicklung: Immer häufiger und schneller würden selbst kleinere Auseinandersetzungen über Strafanzeigen ausgetragen.
Wie in diesem absurden Anzeigenkrieg: Der Streit zwischen Mass-voll!-Chef Nicolas Rimoldi (30) und dem Luzerner Anwalt Loris Fabrizio Mainardi (44) beschäftigt die Justiz seit Jahren. Es geht um Vorwürfe wie Verleumdung, üble Nachrede, Beschimpfung – und sie wiederholen sich in einem kleinteiligen Anzeigen-Pingpong, wie Blick rekonstruierte. Die Luzerner Staatsanwaltschaft hat die meisten Beschwerden längst abgewiesen.
In Freiburg sorgte 2024 ein anderer bizarrer Rechtsstreit für Schlagzeilen. Eine Frau schnitt aus dem Blumentopf ihrer Nachbarin acht Tulpen im Wert von 20 Franken – der Fall beschäftigte jahrelang die Justiz.
Gebühren allein schrecken wenig ab
Um der Anzeigenflut zu begegnen, gibt es bereits heute rechtliche Hebel. So können Kantone seit 2024 bei Anzeigen wegen Ehrverletzung einen Vorschuss verlangen. Der Bundesrat hatte dies vorgeschlagen, um die Justiz zu entlasten. Generalstaatsanwalt Gasser bilanziert nüchtern: «Das wirkt ein wenig, ändert aber nichts.»
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte versinken in Arbeit. Zum Beispiel in Zürich: Über 32'000 Geschäfte sind 2023 laut eigenen Angaben eingegangen – gegenüber 2021 eine Steigerung um 15 Prozent. Neue Zahlen aus dem Kanton St. Gallen belegen den Trend ebenfalls: Dort stieg die Zahl der Strafanzeigen 2024 im Vergleich zum Vorjahr um fast zehn Prozent, ein Grossteil davon betraf Kleinigkeiten. Eine weitere Zahl: 2023 waren schweizweit über 100'000 Straffälle offen.
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte versinken in Arbeit. Zum Beispiel in Zürich: Über 32'000 Geschäfte sind 2023 laut eigenen Angaben eingegangen – gegenüber 2021 eine Steigerung um 15 Prozent. Neue Zahlen aus dem Kanton St. Gallen belegen den Trend ebenfalls: Dort stieg die Zahl der Strafanzeigen 2024 im Vergleich zum Vorjahr um fast zehn Prozent, ein Grossteil davon betraf Kleinigkeiten. Eine weitere Zahl: 2023 waren schweizweit über 100'000 Straffälle offen.
Auch ein anderer Mechanismus greift kaum: Der Staat kann Verfahrenskosten auf Anzeigeerstatter abwälzen, wenn diese grobfahrlässig ein Verfahren auslösen. Doch auch dafür müssen die Fälle geprüft werden – was die Justiz erneut belastet. Und Gebühren allein schrecken wenig ab, wenn sie finanziell kaum ins Gewicht fallen.
Die Probleme sind bekannt. Aufgrund vielfacher Medienberichte zur überlasteten Justiz gab die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) eine Analyse ein Auftrag. Ergebnisse sollen aber erst 2027 vorliegen.
Bis dahin bleibt Gassers Vorschlag im Raum – und wirft eine Grundsatzfrage auf: Muss wirklich jede Lappalie strafrechtlich verfolgt werden?