Die meisten Verurteilungen sind Strafbefehle
Die grosse Macht der Staatsanwälte

Staatsanwaltschaften entscheiden bei neun von zehn Vergehen allein über Schuld und Strafe – via Strafbefehle. Manchmal erfahren Beschuldigte erst im Gefängnis von ihrem Urteil, schreibt der «Beobachter».
Publiziert: 05.03.2022 um 17:06 Uhr
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75 Tage sass Ahmud A. im Gefängnis – ohne zu wissen, warum.
Foto: Keystone
Lukas Lippert, «Beobachter»

Ahmud A.* sass 75 Tage im Basler Gefängnis Bässlergut – ohne zu wissen, warum. Er hatte weder ein Urteil noch eine Richterin gesehen. Nachdem der Algerier bereits mehr als einen Monat in Haft war, klingelte das Handy der Basler Anwältin Angela Agostino-Passerini. Sie war an diesem Tag Pikettverteidigerin.

«Ich dachte zuerst, das sei gar nicht möglich. Es müsse ein Irrtum vorliegen», erzählt sie. Nach dem Lesen der Akten wichen ihre Zweifel der Empörung. Agostino-Passerini hatte gerade erst die Anwaltsprüfung bestanden und glaubte, sie hätte die eine Ausnahme unter Zehntausenden erwischt.

Sie beschloss, den Fall in der juristischen Fachzeitschrift «Forumpoenale» publik zu machen. Noch während des Schreibens meldeten sich zwei weitere Männer aus dem Gefängnis. Auch sie sassen seit Monaten, ohne den Grund zu kennen. Sie hätten gehört, das sei normal in der Schweiz.

Effizienz vor Rechtsstaatlichkeit

Wie ist das möglich? Für Antworten muss man 15 Jahre zurückspulen. Auf den Pulten der Richter stapeln sich Berge von unerledigten Fällen, sie sind chronisch überlastet. Um die Verfahren zu beschleunigen, einigt sich das Parlament auf ein abgekürztes Verfahren: das sogenannte Strafbefehlsverfahren.

Anders als bei regulären Verfahren urteilen keine Richter, sondern die Staatsanwaltschaften. Das Problem dabei: Dieselbe Person ermittelt und fällt das Urteil. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, häufig ohne Einvernahme der Beschuldigten und meist ohne hinreichende Begründung kann eine Staatsanwältin allein in ihrem Büro Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten verhängen. Wenn nicht innert zehn Tagen Einsprache erhoben wird, gilt der Strafbefehl als rechtskräftiges Urteil.

Die häufigste Form der Verurteilung

Strafbefehle sind heute die mit Abstand häufigste Form der Verurteilung. Mehr als 92 Prozent der Vergehen und Verbrechen werden so bestraft. 2020 stellten Staatsanwaltschaften 83 357 Strafbefehle aus. Trotz der hohen Anzahl entzieht sich dieser Alltag fast gänzlich der Öffentlichkeit. Es geht um Tempoübertretungen, Drogenbesitz oder rechtswidrigen Aufenthalt von Asylbewerbern. Um «klare Fälle, Bagatellen», argumentieren die politischen Fürsprecher damals wie heute.

Gesucht: Fehlbefehle

92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden mit Strafbefehlen abgeurteilt. 2020 waren es 83'357. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, können Staatsanwälte Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Trotz dieser grossen Macht wird ihre Arbeit kaum kontrolliert. Der Beobachter möchte das ändern. In Kooperation mit dem Verein Entscheidsuche.ch und einer hochkarätigen Jury küren wir den Fehlbefehl 2022. Schicken Sie uns Ihren Strafbefehl, den Sie stossend finden, mit einer kurzen Beschreibung des Falls an strafbefehl@beobachter.ch oder anonym unter sichermelden.ch.

92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden mit Strafbefehlen abgeurteilt. 2020 waren es 83'357. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, können Staatsanwälte Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Trotz dieser grossen Macht wird ihre Arbeit kaum kontrolliert. Der Beobachter möchte das ändern. In Kooperation mit dem Verein Entscheidsuche.ch und einer hochkarätigen Jury küren wir den Fehlbefehl 2022. Schicken Sie uns Ihren Strafbefehl, den Sie stossend finden, mit einer kurzen Beschreibung des Falls an strafbefehl@beobachter.ch oder anonym unter sichermelden.ch.

In der Praxis zeigt sich häufig ein anderes Bild. Insbesondere bei Delikten gegen das Ausländergesetz führt jeder vierte Strafbefehl zur härtesten Form der Bestrafung: dem Entzug der Freiheit.

Ahmud A. wurde am Abend des 13. August 2019 im französischen Teil des Bahnhofs Basel von der Grenzwache aufgegriffen. Die Beamten vermuteten, er sei illegal eingereist. Er hatte nicht die nötigen Papiere dabei. Sie fanden beim ihm zudem einen Tränengasspray. Nach der Kontrolle fuhren sie ihn zurück ins Asylheim. Sie liessen Ahmud A. ein Dokument unterschreiben, das er nicht verstand. In seiner Heimat war er nur fünf Jahre in die Schule gegangen. Er spricht nur Arabisch. Er dachte, alles sei jetzt in Ordnung.

Ahmud A. hatte unterschrieben, dass er «wegen rechtswidriger Einreise an die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, Strafbefehlsabteilung, überwiesen wird und mit einer Bestrafung zu rechnen hat».

Eine «fiktive Zustellung»

Mehr als ein halbes Jahr später stoppte ihn die Polizei bei einer Routinekontrolle. Die Beamten überprüften seine Papiere und stellten fest, dass ein rechtskräftiger Strafbefehl gegen ihn vorliegt. Ahmud A. wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Er wehrte sich, denn er wusste nicht, warum.

Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hatte den Strafbefehl in eine Asylunterkunft geschickt, in der Ahmud A. gar nicht mehr lebte. Also probierte sie es bei einer zweiten. Auch dort erreichte man ihn nicht. Trotzdem erklärte die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl für rechtskräftig, wie aus einem unveröffentlichten Urteil hervorgeht.

Im Fachjargon nennt man dieses Vorgehen «fiktive Zustellung». Wenn ein Strafbefehl nicht persönlich oder per Post gegen Unterschrift übergeben werden kann, gilt er gemäss aktueller Strafprozessordnung «auch ohne Veröffentlichung als zugestellt». Allerdings nur, wenn alles Zumutbare unternommen wurde, um ihn zuzustellen.

Erstmalige Untersuchung

Die Staatsanwaltschaft muss sich bei der letzten bekannten Adresse oder der Poststelle erkundigen, Einwohnerregister durchforsten, Nachbarn, Verwandte oder das Migrationsamt anfragen. «Bisher gab es noch keinen Fall vor Bundesgericht, in dem die Bemühungen der Staatsanwaltschaft als hinreichend bezeichnet wurden», sagt Anwältin Angela Agostino-Passerini.

Wie häufig solche «fiktiven Zustellungen» in der Praxis vorkommen, war bislang unklar. Strafrechtsprofessor Marc Thommen von der Uni Zürich und sein Team untersuchten mehr als 3000 Strafbefehlsdossiers. Sie erhielten Einblick in die Archive der Staatsanwaltschaften der Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und Neuenburg für die Jahre 2014 bis 2016. Erste Ergebnisse liegen nun dem Beobachter vor.

Grosse kantonale Unterschiede

Auffällig sind zunächst die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen. In Zürich und Neuenburg macht die fiktive Zustellung nur 1,6 respektive 0,8 Prozent der Fälle aus. In Bern liegt der Anteil bei 16 Prozent, in St. Gallen wird sogar jeder vierte Strafbefehl nur fiktiv zugestellt. Die St. Galler Praxis wurde in Basel-Stadt übernommen, mittlerweile aber vom Bundesgericht für rechtswidrig erklärt.

Ein kürzlich veröffentlichtes Leiturteil wirft ein Licht darauf, wie die Staatsanwaltschaften mit ihrer Macht umspringen. Im Winter 2019 legten Grenzwächter am Zoll bei Weil am Rhein einem ausländischen Beschuldigten ein Formular vor: «Erklärung betreffend Zustellungsdomizil in der Schweiz». Der Mann konnte entweder eine Kontaktperson in der Schweiz als Zustelladresse angeben oder die Adresse «einer zuständigen Mitarbeiterin der Strafbefehlsabteilung der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt» ankreuzen. Er hatte keine Kontaktperson in der Schweiz, also wählte er die zweite Variante.

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

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Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Die Staatsanwaltschaft schickte sich so den Strafbefehl selbst zu. Unbemerkt lief die Einsprachefrist, der Beschuldigte wurde verurteilt, ohne etwas davon zu erfahren.

«Die von der Staatsanwaltschaft favorisierte Standardformular-Lösung mit Zustellfiktion mag zwar aus ihrer Sicht durchaus verfahrenseffizient erscheinen. Sie widerspricht aber den bundesrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Parteirechte von beschuldigten Personen sowie den einschlägigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz», schreibt das Bundesgericht.

Studie in der Schlussphase

Keine der Staatsanwaltschaften möchte sich gegenüber dem Beobachter äussern – trotz mehrmaliger Nachfrage. Man äussere sich nicht zu den Ergebnissen der Studie, bevor sie abgeschlossen sei und die wissenschaftlich validierten Ergebnisse vorliegen.

Der für die Studie verantwortliche Strafrechtsprofessor Marc Thommen sagt dazu: «Die Datenerhebungen in den Kantonen sind abgeschlossen. Die Zahlen wurden den Staatsanwaltschaften präsentiert, und sie konnten dazu Stellung nehmen. Erste Publikationen sind bereits aus dem Projekt veröffentlicht worden, weitere folgen.»

Bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt heisst es, man orientiere sich «streng an den einschlägigen gesetzlichen Regelwerken, namentlich dem Strafprozessrecht, und der Rechtsprechung». Zum Fall von Ahmud A. schreibt sie: «Die Staatsanwaltschaft informiert alle Personen, die für eine Strafvollstreckung ausgeschrieben sind und festgenommen werden, im Detail über die Urteile und inhaltlichen Gründe – vorausgesetzt, es wird danach gefragt.»

Kaum Verbesserung

Diese Abwehrhaltung hängt wohl auch mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels zusammen. In diesen Tagen verhandelt der Nationalrat die strittigen Punkte zur Revision der Strafprozessordnung. Der Bundesrat hält die fiktiven Zustellungen angesichts der Höhe der Strafe für «problematisch». Es sei möglich, dass die beschuldigte Person eine unbedingte Freiheitsstrafe von sechs Monaten antreten müsse, ohne je den Strafbefehl gesehen oder zur Kenntnis genommen zu haben.

Das Parlament ging nicht darauf ein. Fiktive Zustellungen sollen erlaubt bleiben. Auch die von Experten wie Marc Thommen als zu kurz kritisierte zehntägige Einsprachefrist soll sich nicht ändern. Als einzige Änderung wird diskutiert, dass bei einer drohenden Freiheitsstrafe die beschuldigte Person zwingend von der Staatsanwaltschaft einvernommen werden muss.

Er wollte nur Papiere holen

Ahmud A. wurde nicht einvernommen. Eine Verteidigerin bekam er erst, nachdem er bereits mehr als einen Monat in Haft sass. Und das nur, weil ihn die Polizei nach weiteren Ermittlungen verdächtigte, kleinere Diebstähle begangen zu haben. Nur wegen der neuen Vorwürfe erhielt Ahmud A. die Anwältin Angela Agostino-Passerini zugeteilt. Das Verfahren dazu ist noch hängig.

Agostino-Passerini verlangte später vor Gericht seinen Freispruch und eine Genugtuung für die unrechtmässige Inhaftierung. Ahmud A. sei nur auf die französische Seite des Bahnhofs Basel gegangen, um seinen Onkel zu empfangen, der ihm seine Papiere bringen sollte. Als er nicht im Zug war, ging er zurück und wurde von der Grenzwache kontrolliert. Die Staatsanwaltschaft warf Ahmud A. trotzdem vor, er sei illegal mit dem Zug aus Frankreich eingereist.

Den Tränengasspray habe Ahmud A., als er noch in Deutschland lebte, legal in einem Geschäft gekauft, argumentierte seine Anwältin. Er sei oft allein unterwegs gewesen und habe auch auf der Strasse übernachtet. Mit dem Spray habe er sich sicherer gefühlt. In Deutschland sind solche Tränengassprays erlaubt, Pfeffersprays verboten. In der Schweiz ist es umgekehrt. Woher sollte Ahmud A. das wissen?, fragt Agostino-Passerini.

15'000 Franken Genugtuung

Das Gericht liess sich davon nicht überzeugen und verurteilte ihn wegen illegaler Einreise und Waffenbesitz. Für die unrechtmässigen 75 Tage in Haft erhielt er eine Genugtuung von 200 Franken pro Tag, insgesamt 15 000 Franken.

Agostino-Passerini ist nach wie vor von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt. Inzwischen wurde er nach Deutschland ausgeschafft, da er dort als Flüchtling registriert worden war. Er verzichtete auf eine Berufung. Seine Anwältin sagt, die Genugtuung nütze ihm aktuell mehr als ein Freispruch. Ahmud A. sagte ihr: «Egal, wie viel Geld man bekommt, die Tage im Gefängnis bringt einem niemand zurück.»

* Name geändert

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