Darum gehts
- Schweizer zahlen zu viel Steuern aufgrund der warmen Progression
- Umverteilung von oben nach unten wird durch diese Entwicklung abgeschwächt
- Zwischen 2010 und 2023 flossen 20 Milliarden Franken zu viel in Staatskassen
Wir zahlen zu viel Steuern – ohne es zu wissen. Das zeigen Berechnungen der Denkfabrik Avenir Suisse. Bund und Kantone knöpfen den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern nämlich deutlich mehr ab als eigentlich vorgesehen. Zwischen 2010 und 2023 flossen ganze 20 Milliarden Franken zu viel in die Staatskassen.
Der Grund? Wirtschaftlicher Fortschritt und steigende Produktivität führen zu besseren Reallöhnen – und bugsieren damit die gesamte Schweizer Bevölkerung in höhere Steuerklassen. Besonders Tieflöhner und der Mittelstand kommen dadurch unter die Räder.
Umverteilung gegen unten nimmt ab
Die sogenannte warme Progression fristet im Schweizer Steuersystem ein Schattendasein. Für Avenir Suisse ein Unding: «Der Staat darf den Bürgerinnen und Bürgern doch nicht einfach überproportional mehr Steuern abknüpfen, nur weil der Wohlstand steigt», sagt Studienautor Lukas Rühli (46), Ökonom bei Avenir Suisse.
Besonders bedenklich: Die Entwicklung führt dazu, dass die im Steuersystem angestrebte Umverteilung von oben nach unten abgeschwächt wird. «In der Schweiz haben wir ein progressives Steuersystem. Wer also ein höheres Einkommen hat, liefert verhältnismässig mehr davon an den Staat ab», so Rühli.
Geringverdiener werden damit entlastet, Reiche in die Pflicht genommen. Steigen jedoch die Reallöhne durchs Band, führt dies zu einem umgekehrten Effekt: Die Steuerbelastung steigt besonders bei tiefen Löhnen überproportional.
Steuersenkungen würden nichts lösen
Die Denkfabrik warnt schon länger vor der Entwicklung. Bereits vor zwei Jahren zeigte eine Hochrechnung, dass durch die warme Progression alleine 2020 rund 2,5 Milliarden Franken mehr Steuern bezahlt wurden als noch zehn Jahre zuvor.
Braucht es also sofort Steuersenkungen? Nein! «Das behebt die Verschiebung bei der Verteilung der Steuerlast nicht», sagt Rühli. Durch die steuerliche Progression würden besonders Reiche von einer solchen profitieren. Auch eine Erhöhung bestimmter Abzüge sieht er als problematisch. Dadurch würden nämlich nur einzelne Personengruppen entlastet und das Steuersystem verzerrt.
Wie es stattdessen funktionieren soll, zeigt der Ausgleich der sogenannten kalten Progression: Um die Teuerung abzufedern, passen Bund und Kantone schon längst regelmässig ihre Steuertabellen an. Bürgerinnen und Bürger geben ansonsten mit steigendem Lohn mehr an den Staat ab, obwohl ihre Kaufkraft nur bedingt steigt – ein Teil des Mehreinkommens wird durch die Inflation zunichtegemacht.
Der Ausgleich hat einen schweren Stand
Der Ausgleich orientiert sich dabei am Landesindex der Konsumentenpreise. Avenir Suisse fordert, dass Bund und Kantone stattdessen zukünftig den Nominallohnindex verwenden sollen. So würden sowohl kalte als auch warme Progression ausgeglichen. «Es wäre technisch unkompliziert», so Rühli. Der Bund hätte damit sogar bereits Erfahrung: Für die Anpassung der AHV-Renten orientiert er sich etwa am Durchschnitt aus Preis- und Lohnindex.
Auf Bundesebene und in zahlreichen Kantonen sind dazu aktuell Vorstösse hängig. Doch haben sie einen schweren Stand: «Der Ausgleich der warmen Progression hat keine Lobby», so Rühli. Für spezifische Interessen – beispielsweise neue Steuerabzüge – liesse sich hingegen leicht lobbyieren.
Zwar ist in den eidgenössischen Räten weiterhin eine parlamentarische Initiative von SVP-Nationalrat Thomas Burgherr (63, AG) hängig, die einen Ausgleich zumindest bei den Bundessteuern fordert.
Andere Länder orientieren sich bereits am Reallohn
Die zuständige Kommission des Nationalrates empfahl jedoch im Oktober, dass die grosse Kammer den Vorstoss in der kommenden Wintersession endgültig versenken soll. Bei den Bundessteuern würden besonders höhere Einkommen von der Reform profitieren, argumentierte die Kommissionsmehrheit. Zudem seien weitere Steuerausfälle aktuell besonders heikel, da neben dem Eigenmietwert wohl bald auch die Heiratsstrafe abgeschafft würde.
Bundesrat und die Kantone stemmten sich ebenfalls bereits wiederholt gegen einen Systemwechsel. Das liege nicht nur am fehlenden Willen, so Rühli. «Eher ist das Phänomen vielen Kantonsregierungen gar noch nicht so richtig bewusst.»
Es ginge auch anders, wie andere Staaten zeigen. So gleichen etwa Schweden, Dänemark und Norwegen die warme Progression problemlos aus – bereits seit mehr als 30 Jahren.