Schweizer Schulen am Limit?
Die Zahl der Sonderschüler steigt und steigt

Die Zahl sonderschulbedürftiger Kinder in der Schweiz nimmt zu. Der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger schlägt deshalb Alarm. Die oberste Lehrerin und der oberste Schulleiter entgegnen: Die Schulen kommen an ihre Grenzen – aber nicht nur wegen Sonderschulkindern.
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Der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger findet, die Zunahme der sonderschulbedürftigen Kinder und Jugendlichen in seiner Stadt bringe die Schulen an den Anschlag.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

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Rebecca WyssRedaktorin SonntagsBlick

Filippo Leutenegger formuliert es als Frage, doch ist es eine Ansage. «Schule am Anschlag?» – so hat der Zürcher Stadtrat einen kürzlich erschienenen Kommentar im Amtsblatt der Stadt überschrieben. Darin warnt er vor einer «problematischen Entwicklung»: Die Quote der sonderschulbedürftigen Kinder und Jugendlichen auf Stadtzürcher Boden hat seit 2020 stark zugenommen. Um 25 Prozent ist sie gestiegen.

Es geht um Kinder mit Lern- und Sprachschwierigkeiten sowie starken Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen oder kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen. Auch solche, die Leutenegger «System-Sprenger» nennt. Für sie findet die Stadt keinen Platz in einer ihrer Sonderschulen, weshalb sie sie für teures Geld in einer Privatschule unterbringen muss. Ihre Zahl hat sich sogar verdoppelt. Wegen all dem hinterfragt er im Kommentar die integrierte Schule.

Schweizweit ein Thema

In Zürich kristallisiert sich eine Entwicklung heraus, die in der ganzen Schweiz stattfindet. Es gibt mehr Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf. Das Bundesamt für Statistik hat erhoben: Von den schweizweit 1'024'182 Schülern besuchen 3,3 Prozent aktuell eine Sonderschule oder eine Sonderklasse wie Einführungsklasse oder Klasse für Fremdsprachige. Die Quote ist seit 2020 um zehn Prozent gestiegen. Das zeigt sich in den Statistiken bevölkerungsreicher Kantone: Im Kanton Zürich ist in der gleichen Zeit die Quote der Kinder mit Sonderschulstatus von 3,8 auf 4,6 angewachsen. Ebenso im Kanton St. Gallen jene der Sonderschulkinder auf 2,7 Prozent – eine Steigerung von acht Prozent. Ähnlich hat die Quote der Kinder mit Sonderschulstatus in einem Stadtkanton wie Basel-Stadt zugenommen – von 3,9 auf 4,5 Prozent (2020 bis vergangenes Jahr).

Das sind nun erst mal nur Zahlen. Wie schätzen die Situation jene ein, die Tag für Tag damit konfrontiert sind? Thomas Minder, der Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), sowie Dagmar Rösler, die Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), sagen: Schulen und Lehrpersonen kommen an ihre Grenzen. Doch nicht einfach nur wegen der Sonderschulkinder.

2024 führte der LCH eine Berufszufriedenheitsstudie durch. Das Ergebnis: Die Lehrpersonen unterrichten grundsätzlich gerne, doch gehen sie nach dem Unterricht oft mit einem unguten Gefühl nach Hause. Weil ihre Zeit knapper geworden ist, sie Dinge nicht fertig bekommen haben und das Gefühl haben, den Kindern nicht gerecht geworden zu sein. «Das muss man ernst nehmen», sagt Dagmar Rösler.

Vorschulkinder können nicht mehr richtig sprechen

Als Grund sieht sie die insgesamt gestiegene Vielfalt an den Schulen. Heute sitzen im gleichen Schulzimmer Begabte, die Hirnnahrung brauchen, mit Sonderschulkindern, die eine Heilpädagogin an der Seite haben, und Schülern, die wohlstandsverwahrlost sind, oder solchen mit Migrationshintergrund, die nicht gut Deutsch sprechen. «Das sind viele verschiedene Bedürfnisse auf einem Haufen», sagt Dagmar Rösler. «Die Lehrpersonen sind die, die allen Rechnung tragen müssen.»

Der oberste Schulleiter Thomas Minder teilt diese Einschätzung. Auch er nimmt eine Veränderung wahr. «Wir beobachten einen Anstieg von Kindern im Vorschulalter, die eine Logopädie-Therapie brauchen», sagt er. Schon vor dem Kindergarten stellen Fachleute fest, dass ihre Sprachfähigkeit nicht richtig entwickelt ist. Das zieht sich dann weiter bis in die Schule, sagt Minder: Wenn eine Lehrerin in der ersten oder zweiten Klasse eine Geschichte erzähle, gebe es auffällig viele Kinder, die nicht folgen könnten. Sie suchten sich deshalb Ablenkung und störten den Unterricht. Er sagt: «Ich vermute einen Zusammenhang mit dem Medienkonsum.» Der Kinder und der Eltern.

Oft würden die Kleinen schon im Kinderwagen mit einem Smartphone in der Hand ruhig gestellt. Und manche Eltern beschäftigten sich so intensiv mit dem Tablet oder dem Smartphone, dass ihr Kopf ständig dahinter verschwinde und die Kinder deren Mimik gar nicht mehr wahrnehmen könnten. «Gerade Kleinkinder sind für ihre Entwicklung auf die Interaktion mit den Eltern angewiesen», sagt er.

Zwei Lösungsansätze

All das bekommen die Schulen zu spüren. Was also tun? Die integrierte Schule hinterfragen – wie es Stadtrat Filippo Leutenegger in seinem Kommentar im Amtsblatt tut?

Thomas Minder winkt ab. «Je mehr Kinder man in der Schulzeit separiert und ausschliesst, desto mehr Erwachsene hat man später, die aus der Gesellschaft herausfallen.» Er hat einen anderen Vorschlag: Man könnte sich an den Schulen mit diesen Kindern hinsetzen und üben, wie man mit seinen eigenen Gefühlen umgeht, wie man seine Impulse steuert und wie man sich in der Gruppe verhält – sozial-emotionales Lernen heisst das.

Und Dagmar Rösler sieht am meisten Potenzial für eine Entlastung beim Personal: «Zwei ausgebildete Lehrpersonen pro Klasse würden viel bringen.» Entschärft sich der Lehrermangel weiter, könnte das Abhilfe schaffen.

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