Darum gehts
- Kinderheime in der Schweiz sind teils stark überlastet
- Eine Zunahme von komplexen Fällen mit ADHS, Autismus etc. verschärfen die Situation
- Kinder werden zum Teil in Spitälern untergebracht
Oft ist es eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Kurzfristig angekündigt steht im Kinderhaus Holee ein Polizist oder jemand von der Kesb mit einem Kind vor der Tür, weil es daheim nicht mehr geht, es gefährdet ist. Zwei Betreuende empfangen es, führen es ins Haus, wo die anderen, die hier daheim sind, schon auf Zehenspitzen stehen, um einen Blick auf das «Neue» zu erhaschen. Manchmal steuert das Kind als Erstes auf den Spielplatz im Garten zu, klettert die Leiter im Holzturm hoch. Und saust die Rutschbahn hinab, die wie ein riesiger Elefantenrüssel aus dem Gebilde ragt. Wohl das Schönste, das das Kind in den letzten Stunden erlebt hat.
Stephan Sieber (47) leitet das Kinderhaus Holee in Basel, eines von vier Kinder- und Jugendheimen der Heilsarmee. Viele hat er schon ankommen sehen, manche verängstigt, scheu, andere so zutraulich, als wäre nie etwas passiert. «Das macht mich immer stutzig», sagt er. Gerade ist ein Baby zu ihnen gestossen – nach einem Drogenentzug im Spital.
Für sie ist dieses Haus ein Schutzort. Ein Lebensraum. Doch längst nicht alle, die einen Platz bräuchten, finden einen. Stephan Sieber sagt: «Die Anfragen von Zuweisenden nach einem Platz bei uns haben zugenommen.» 26 Plätze hat das Kinderhaus, 3 davon für notfallmässige Unterbringungen. «Wir sind immer überbelegt.»
Das Kinderhaus Holee ist nicht allein.
Ähnlich klingt es aus Mettmenstetten ZH, aus einem anderen Kinder- und Jugendheim der Heilsarmee. Dort heisst es: «Die Zahl und Dringlichkeit der Anfragen hat in den letzten Monaten deutlich zugenommen.» Vor allem für Kinder zwischen 6 und 16 Jahren.
Oder bei der mit Abstand grössten Anbieterin entsprechender Institutionen im Kanton Zürich. Sandra Abderhalden, Geschäftsleitungsmitglied der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ), sagt: «Die Anfragen sind explodiert, häufig müssen wir ablehnen.» Diese Probleme habe man im ganzen Kanton.
Nach der Pandemie hat sich das Problem verschärft
Blick-Recherchen zeigen: Das Problem besteht in der ganzen Schweiz. Insbesondere aber in den Kantonen Zürich, Genf und Waadt. Dort weiss man zum Teil kaum noch, wohin mit den Kindern. Doch warum eigentlich? Warum ist die Nachfrage nach Plätzen so stark gestiegen? Und warum steht das System so unter Druck? Klar ist: Am meisten leiden darunter die Kinder und Jugendlichen.
Im Kinderhaus Holee kommt bei jedem Kind irgendwann dieser eine Moment. Jener, in dem Stephan Sieber weiss: Jetzt ist es so weit. Jetzt ist das Kind angekommen. Sein Büro ist im Erdgeschoss, die Tür steht meist offen. Anfangs huschten sie nur vorbei, sagt er. Sähen ihn am Pult stehen, einen Fremden. «Dann, eines Tages, bleiben sie in der Tür stehen und reden mit mir.»
Die Kleinen verbringen ihre Kindheit hier, ab 12 Jahren können sie innerhalb Basel ins Heilsarmee-Jugendheim Schlössli wechseln. Im Holee leben sie nach Alter aufgeteilt verteilt auf drei Wohngruppen. Auf jedem Stock eine, mit Küche, Aufenthaltsraum und Zimmern, in denen nun Betten mit Stofftieren und Puppen stehen, in anderen ein Kinderbettchen oder ein Wickeltisch. Im Erdgeschoss befindet sich eine Spielgruppe. Im Garten der Spielplatz mit Klettergerüst, den sie mitgestaltet haben. Kindergarten und Schule besuchen sie auswärts. Deshalb ist das Haus bis auf ein paar wenige Kleinkinder, die im ersten Stock gerade Zvieri essen, verwaist, als wir an diesem Nachmittag vorbeischauen.
Was auffällt: Das eigentlich funktionale Haus strahlt Wärme aus. Überall lächeln Kindergesichter von Fotos, die Wände sind mit Kinderzeichnungen tapeziert, Kickboards reihen sich in allen Grössen in den Gängen aneinander. Stephan Sieber sagt: «Unsere Kinder sind hier daheim, es ist wichtig, dass sie sich wohlfühlen.»
Ihr altes Zuhause mussten sie verlassen. Die Gründe sind vielfältig und betreffen die Eltern: Sucht, psychische Erkrankung, Gewalt. Manchmal muss die Polizei nachts ein Kind aus einer Wohnung herausholen, weil es in der Familie eskaliert. Traurig sind viele der Geschichten, wie Sieber sagt, er macht eine Pause, fügt hinzu: «Manche der Kinder hier haben niemanden mehr.»
All das hat sich in letzter Zeit zugespitzt. Gesamtgesellschaftlich. Das sagen alle Fachleute und Behördenstellen, mit denen wir gesprochen haben.
Angefangen hat es mit der Pandemie. Die Kinder und Jugendlichen haben gelitten, die Eltern kamen unter Druck. Sind es bis heute geblieben, viele sind überfordert. Hinzu kommen die Nebeneffekte der sozialen Medien. Die Bevölkerung, die so schnell wächst, dass die Strukturen nicht nachkommen. Und eine Entwicklung verschärft das alles noch: Bei den Kindern hat sich etwas verschoben.
In Zürich sagt das ZKJ-Geschäftsleitungsmitglied Abderhalden: «Wir haben es zunehmend mit komplexen Fällen zu tun.» Auch in den Heilsarmee-Heimen beobachtet man das, wie ein Sprecher sagt. Viele der Kinder und Jugendlichen brächten traumatische Erlebnisse, starke Verhaltensauffälligkeiten und multiple Diagnosen wie ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Traumafolgestörungen mit. Diese brauchen eine intensivere Betreuung, Orte mit Spezialangeboten. Solche Plätze seien nicht einfach zu finden. So tönt es auch aus dem Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt, wo das Kinderhaus Holee steht.
Es fehlen Kinderheimplätze
All das hat nun bittere Folgen. Diese beschäftigen die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). Joanna Bärtschi, die das Dossier verantwortet, sagt: «Es mangelt insgesamt an Plätzen in den Kinder- und Jugendheimen.» Aber nicht in allen Kantonen gleich. Zudem kämpften einige mit einem Platzmangel für Kleinkinder, andere für Jugendliche. Der gemeinsame Nenner, wie sie sagt: «Manche haben Wartelisten.»
Was nun wo genau gilt, ist unklar. Heute weiss man nicht einmal, wie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz ausserfamiliär untergebracht sind. Eine Statistik fehlt. Der Bund arbeitet daran. Doch das dauert. Derzeit tüftelt er noch zusammen mit den Kantonen an einer für alle tauglichen Definition für die ausserfamiliäre Unterbringung, um die Zahlen überhaupt erheben zu können. Später will die SODK eine Bedarfsabklärung machen. Eine Zangengeburt.
Derweil zeigt sich: Am meisten kämpft man in den Kantonen Zürich, Waadt und Genf mit dem Mangel.
In Zürich hat das zuständige Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) im Versorgungskonzept vom März festgehalten, der Bedarf übersteige das Angebot quantitativ. Und das nicht zu knapp, das spürt die Krisenintervention Riesbach in Zürich. Es fängt Kinder und Jugendliche notfallmässig auf, die sonst nirgends hinkönnen. Eigentlich nur kurz, um einen Heimplatz zu finden. Doch weil das so schwierig geworden ist, bleiben die Kinder immer häufiger vier, fünf Monate.
In der Romandie haben die zuständigen Departemente Zahlen erhoben: Im Waadtland stehen derzeit 36 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste für einen Heimplatz, 11 auf jener für eine Pflegefamilie. Im Kanton Genf waren es Ende Juni insgesamt 19, die warten mussten.
Auf der Kinderstation parkiert
Die Lage ist so prekär, dass beide Westschweizer Kantone Kinder in Spitälern unterbringen. Im Kanton Waadt immer häufiger: 66 Kinder platzierte man 2022 auf einer Kinderstation, 107 waren es im Jahr 2024 – allein 82 waren es in diesem Jahr schon bis Juli. Durchschnittlich 19 Tage bleiben die Kinder dort. Ähnlich im Kanton Genf: 55 bis 100 Spitalplatzierungen finden pro Jahr statt. Im Schnitt sind die Kleinen drei Jahre alt und bleiben 40 Tage.
Noch weiter gehen andere: Vor zwei Jahren enthüllte SRF, dass Kesb-Stellen aus Zürich, Bern, Aargau, Baselland, Luzern und Wallis unbescholtene Jugendliche im Jugendgefängnis untergebracht hatten.
Das ist verheerend. Kinder und Jugendliche brauchen Stabilität. Das Gefühl, dazuzugehören, gewollt zu sein. Ganz besonders, wenn sie Brüche erlebt haben, Vernachlässigung.
Dafür sorgen im Kinderhaus Holee in Basel die spezifisch ausgebildeten Betreuenden. Sie sind Tag und Nacht für sie da. Helfen ihnen bei den Hausaufgaben. Verhandeln mit ihnen über Sackgeld und Medienzeit. Und trösten sie. Vor allem dann, wenn die Eltern sie mal wieder versetzen, nicht zu Besuch kommen. Heimleiter Sieber sagt: «Die Kinder werden oft enttäuscht. Das ist sehr bitter.» Er und sein Team fangen sie dann auf.
Was passiert nun also, wenn Kinder das nicht mehr erfahren, weil sie nirgends permanent unterkommen, kein Zuhause haben? Man will es sich nicht ausmalen.
Zürich, Waadt und Genf haben das Problem immerhin erkannt. Das Zürcher Amt für Jugend und Berufsberatung will laut dem Versorgungskonzept das Angebot an Heimplätzen ausbauen. Rund 1473 gibt es aktuell, bis zu 8 Prozent mehr sollen es bis 2029 werden. Ähnliches hat der Kanton Waadt vor, wofür der Staatsrat im vergangenen Jahr unter anderem 80 Millionen Franken gesprochen hat. Und im Kanton Genf will man vermehrt Pflegefamilien rekrutieren, dafür arbeitet man neuerdings mit der Caritas zusammen.
Ob all das greift, wird sich zeigen.