Darum gehts
- Annalena Baerbock spricht über Online-Hass, Klimaschutz und Feminismus
- 96 Prozent der Deepfake-Videos betreffen Frauen in sexualisiertem Kontext
- Globale Investitionen in erneuerbare Energien erreichten 2025 über 800 Milliarden Dollar
Frau Baerbock, welche Serie hat Ihnen als Teenager besser gefallen: «Gossip Girl» oder «Sex and the City»?
Annalena Baerbock: Ich bin ja schon ein bisschen älter und daher Generation «Sex and the City».
Sie landeten mit einem «Gossip Girl»-Zitat einen viralen Hit: «Der Herbst in New York ist einzigartig, aber nicht nur die Blätter verändern sich.»
Und dann gings weiter: … bei den Vereinten Nationen beginnt die Ausschussarbeit. Wie immer ist so etwas Teamsport. Das Motto meiner einjährigen Amtszeit lautet: «Better together!»
Sie erhielten viel Applaus, aber auch Häme. Warum werden Ihre Beiträge mehr kritisiert als die Fressvideos von CSU-Chef Markus Söder?
Zum Glück kann in einer freien Gesellschaft jeder alles kommentieren. Über Geschmack lässt sich streiten. Und da geht es bei männlichen Politikern ähnlich munter zu.
Aber Frauen werden anders bewertet als Männer.
Mir sind ehrliches Feedback und Kritik enorm wichtig. Allerdings endet die Meinungsfreiheit dort, wo sie in Hass und Hetze umschlägt. Leider passiert das bei Frauen überproportional häufiger als bei Männern. Während es da eher heisst: «Ei, der Markus halt …», wird Frauen oft gleich die Kompetenz abgesprochen, nur weil jemand mit «Gossip Girl» nichts anfangen kann oder Frau im Video hohe Schuhe trägt. Das geht bis zu Vergewaltigungsfantasien. 96 Prozent der Deepfake-Videos betreffen Frauen im sexualisierten Kontext. Das ist kein Zufall, sondern hat System.
Sie haben viele Strafanzeigen wegen Hassnachrichten erstattet. Was bringt das?
Zunächst einmal: Das wird immer von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft an mich herangetragen. Würden solche Beleidigungen auf offener Strasse stattfinden, erwartet man ja auch, dass das nicht einfach hingenommen wird. Der sexualisierte Hass soll nicht nur prominente Frauen treffen, sondern Frauen grundsätzlich einschüchtern, nach dem Motto: «Wagt es gar nicht, euch selbstbewusst und innovativ herauszuwagen!» Ich erstatte in diesem Sinn nicht nur für mich Anzeige, sondern für all die Mädchen und Frauen, die es nicht können. Meine Botschaft lautet: Lasst euch nicht abschrecken! Zumal die sozialen Medien eine falsche Realität vermitteln. Algorithmen sind so programmiert, dass Hass sechsmal mehr klickt.
Perlt der Online-Hass an Ihnen ab?
Sogenannte Shitstorms sind mit Bots zusätzlich gesteuert. Die wollen einen brechen. Ich habe von einer Spitzenfrau zum Glück schon während meiner Kanzlerkandidatur den wichtigen Tipp bekommen, X (früher Twitter) dann auch kurz abzuschalten. Denn natürlich geht das an niemandem spurlos vorüber. Aber in der realen Welt sieht das oft ganz anders aus. Während Islamisten und Rechtsextreme im Netz wüteten, weil ich als erste europäische Aussenministerin und dann noch als Frau nach Assads Sturz nach Syrien reiste, kamen auf der Strasse viele mit Tränen in den Augen auf mich zu, um Danke zu sagen.
Als deutsche Aussenministerin kämpften Sie fürs Klima und für Feminismus …
Vor allem war ich Tag und Nacht mit der Verteidigung unserer liberalen, demokratischen Gesellschaft und unseres Friedens in Europa beschäftigt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat in meiner dreieinhalbjährigen Amtszeit eine aktive Aussenpolitik mit klarer, strategischer Haltung statt Duckmäuserei erfordert.
Das Thema Ukraine ist noch immer aktuell – aber Klima und feministische Aussenpolitik klingen wie aus dem Geschichtsbuch. Sind Sie aus der Zeit gefallen?
Ganz und gar nicht! Die Klimakrise ist die grösste Sicherheitsgefahr unseres Jahrhunderts, das wird bei den Vereinten Nationen jeden Tag deutlich. Und auch wenn einige versuchen, Klimawandel als Fake und Frauenrechte als Gedöns abzutun, arbeitet die Mehrheit der Staaten hier intensiver zusammen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Nicht rein aus Altruismus, sondern aus Eigeninteresse. Studien zeigen, dass die weltweite Gleichstellung der Geschlechter das globale Bruttoinlandsprodukt um über 20 Prozent steigern könnte. Aktive Gleichstellungspolitik ist die beste Wirtschaftspolitik.
Gibt es einen Kampf zwischen Feminismus und Antifeminismus?
Wir erleben beim Thema Gleichberechtigung eine Zweigleisigkeit. Einige wollen den Fortschritt zurückdrehen. Viele afrikanische und lateinamerikanische Länder unterstreichen jedoch umso deutlicher: Es gibt keinen stabilen Frieden und keine ökonomisch starken Gesellschaften, wenn Frauen nicht die gleichen Rechte, die gleiche Repräsentanz und die gleichen Ressourcen haben wie Männer. Saudi-Arabien ist kein Land, das den Feminismus plakativ vor sich herträgt, hat aber in diesem Jahr massgeblich dazu beigetragen, dass wir beim Schutz vor Gewalt gegen Frauen keinen Backlash erleben.
Als Präsidentin der Uno-Generalversammlung mussten Sie US-Präsident Donald Trump für seine Rede danken, in der er Stimmung gegen den Green Deal machte. Wie schwer fiel Ihnen das?
Cool bleiben ist mein Job! Die Reaktion zum Klimathema kam ja unverzüglich in den Reden der folgenden Staats- und Regierungschefs.
Haben Sie sich vor Trumps Rede einen Zettel notiert mit den Worten: «Bloss nicht aufregen!»
Nö. Die gesamte diplomatische Klaviatur – also mal klare und laute, mal leise und sanfte Töne – brauchte ich ja auch schon als Aussenministerin.
Marco Buschmann, Ihr Ex-Kollege als Justizminister, hat nach Trumps Wahl gesagt, uns drohe eine «Zeit der Wölfe». Wie zähmen Sie Wölfe?
Ich bin Optimistin und halte nichts von Schwarzmalerei. Ansonsten sollte man nicht in die internationale Politik, denn die Welt ist kein perfekter Ort. Und wenn man immer nur das Schlechte sieht, wird die Welt kein Stück besser.
Wird die Welt besser?
Viele beklagen zu Recht, dass die alten harmonischeren Zeiten vorbei sind. Aber das alte Lagerdenken hat ja nicht nur Gutes gebracht. Der neue Multilateralismus ist cross-regional, über Kontinente hinweg. Das ist eine neue Stärke. Es gibt nicht einfach mehr den Westen und den globalen Süden, sondern Staaten bilden unterschiedliche multilaterale Allianzen. Wie beispielsweise im September mit der Zwei-Staaten-Konferenz und der Erklärung von 142 Staaten, die zur Bewegung im Sicherheitsrat und zu Trumps Friedenskonferenz zu Gaza führte. Nichts wäre besser, wenn wir in den letzten 80 Jahren die Vereinten Nationen nicht gehabt hätten. Ohne die internationale regelbasierte Ordnung stünden wir alle schlechter da. Das gilt nicht nur für Krieg und Frieden, sondern auch für den Welthandel.
Trump hält sich mit seinen Zoll-Schikanen aber nicht mehr an Regeln.
Nach wie vor sind mehr als 80 Prozent der Handelsbeziehungen unter WTO-Regeln. Auch wenn die USA den Druck erhöht haben, besteht diese Ordnung weiter fort. Aber ja, die America-First-Politik ist auch in den Vereinten Nationen angekommen. Ich erlebe Debatten, in denen einzelne Staaten zurück zu einer anarchischen Weltordnung wollen. Das sind bei 193 Mitgliedstaaten allerdings eine Handvoll – für die allermeisten ist der Multilateralismus die Lebensversicherung.
Der US-Präsident ist nicht zur Klimakonferenz nach Brasilien gereist.
Dafür waren alle anderen Staaten da und haben bekräftigt, dass sie den Klimaschutz weiter vorantreiben wollen. Die Welt ist nicht gespalten, sondern es gibt eine deutliche Zweidrittelmehrheit, die jeden Tag für die Werte der Uno einsteht – für eine regelbasierte Friedensordnung, für Klimaschutz, Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit.
Der Klimawandel hat längst die Schweiz erreicht. Wie haben Sie den Bergsturz von Blatten erlebt?
Mein erster Gedanke war: Oh Gott, wenn das meine Familie getroffen hätte! Den Klimawandel gibts ja nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret: Es geht um Sie, um mich, um Familien. Über viele weltweite Klimaereignisse wird gar nicht mehr berichtet, weil es zeitgleich andernorts Waldbrände, Stürme und Überschwemmungen gibt. Wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff bekommen, werden wir Katastrophen wie in Blatten leider überall erleben.
Die Klimapolitik macht Rückschritte. Die EU krebst beim Verbrenner-Aus zurück.
Die globalen Investitionen sprechen eine andere Sprache. Investitionen in erneuerbare Energien sind weltweit auf ein Rekordniveau gestiegen. Es gibt kein Zurück mehr in die fossile Welt. Am schnellsten geht es, wenn wir zusammenarbeiten.
Die Klimakonferenz von Belém hat nur bescheidene Ergebnisse geliefert. Brauchen wir eine Koalition der Willigen statt Minimalkompromisse, denen alle Staaten zustimmen?
Wir brauchen Vorreiter wie damals in Paris: 2015 haben Staaten Klimaallianzen gebildet, die andere mitgezogen haben. Brasilien hat jetzt in Belém einen Sicherheitsrat fürs Klima vorgeschlagen. Die Idee dahinter: Wir können bei der Umsetzung der Beschlüsse nicht mehr auf die Letzten warten, sondern wir müssen vorangehen. Eine Gruppe von rund 40 Finanzministern sagt klipp und klar: Klimaschutz kostet viel Geld – aber kein Klimaschutz käme uns deutlich teurer zu stehen.
Uno-Organisationen müssen sparen. Ist der Standort Genf in Gefahr?
Genf ist eine Schaltstelle der multilateralen Diplomatie und als Standort nicht in Gefahr. Wir leben in finanziell sehr schwierigen Zeiten, da Mitgliedstaaten, insbesondere die USA, ihre vollen Beiträge nicht bezahlen. Von den Sparmassnahmen könnten Orte wie Genf, Bonn oder Nairobi sogar profitieren. New York ist ein sehr teures Pflaster – deswegen überlegen wir, welche Standorte wir verlagern könnten. Die Schweiz ist nicht gerade günstig, aber trotzdem sehr attraktiv.
Länder wie Österreich oder Italien buhlen um Uno-Stellen in Genf. Ist so etwas nicht unkollegial?
Tja, wie sagt man: Beim Geld hört die Freundschaft auf (lacht). Jedes Land schaut jetzt natürlich, wie es für seine Standorte werben kann. Ich bin eine grosse Freundin des Sports, und deswegen gilt auch hier: Fairplay! Niemand darf den anderen übervorteilen – möge der Bessere gewinnen. Mir ist aber noch ein anderer Punkt sehr wichtig.
Welcher?
Die Kürzungen der Mitgliedstaaten für die Uno sind fatal, gerade in der Entwicklungszusammenarbeit. Weniger Geld fürs Welternährungsprogramm bedeutet, dass das Weltgesundheitsprogramm weniger Nahrungspakete für Säuglinge hat und wieder mehr Babys verhungern. Das ist moralisch falsch und auch mittelfristig keineswegs im Interesse der wohlhabenden Länder. Denn wenn Kriege, Hunger und Armut herrschen, werden sich die Menschen auf den Weg machen, so wie wir das vor zehn Jahren in Syrien erlebt haben. Jede Kürzung der Entwicklungszusammenarbeit ist ein Schuss ins eigene Knie. Mehr Krisen und Konflikte erhöhen den Migrationsdruck. Oder positiv gesprochen: Jedes Mehr an internationaler Zusammenarbeit stärkt uns alle.